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Kultur: Körpersprachverwirrung

Global denken: der Tanzkongress Deutschland im Berliner Haus der Kulturen der Welt

Von Sandra Luzina

Weiß Jérôme Bel eigentlich, was für eine unsympathische Figur er da abgibt? Der französische Choreograf, prominenter Vertreter des Konzept-Tanzes, schaut auf sein silbernes Notebook und dann erst auf den thailändischen Tänzer Pichet Klunchun. Die beiden sitzen sich gegenüber, doch ist dies beileibe keine Begegnung auf Augenhöhe. Bel stellt die Fragen, desinteressiert und ahnungslos. Klunchun muss sich erklären – wer er ist, was er tut. Und dem Franzosen zeigen, was traditioneller thailändischer Tanz ist. Der schaut gelangweilt zu, murmelt ab und zu „Wie hübsch!“ und blickt wieder in sein Notebook. Nächste Frage. Die Szene findet im Hebbel-Theater statt, die Performance heißt „Pichet Klunchun and Myself“.

Auch bei seinem Auftritt im Rahmen des Tanzkongresses Deutschland im Berliner Haus der Kulturen der Welt hatte Bel es darauf angelegt zu provozieren. Die Podiumsdiskussion zum Thema „Interkulturalität und Körperwissen“ versammelt professionelle Grenzgänger wie die Berliner Tanzcompagnie Rubato oder den Performancetheoretiker André Lepecki (New York University). Vom vielbeschworenen „Dialog der Kulturen“ will Bel nichts wissen. Der Jetlag, der horrende Verkehr in Bangkok – Bel führt zunächst banale Gründe an, die eine Annäherung erschweren. Und vertritt dann den Standpunkt: Er könne einen Menschen aus einer anderen Kultur nicht verstehen. Er sei sich ja noch nicht einmal seiner eigenen Kultur bewusst. So ist er mittendrin in der kontroversen Debatte über Tanz und „Wissen in Bewegung“.

Das Motto des Kongresses, zu dem 120 Referenten und 650 Besucher nach Berlin gekommen sind, lässt sich unterschiedlich verstehen. Zentrales Anliegen ist es, den Tanz in der Wissensgesellschaft zu verorten – das versucht zum Beispiel Gabriele Klein (Universität Hamburg). Man kann auch fragen: Was weiß der Tanz von uns, was wir nicht wissen? Eine der Lesarten, die Hortensia Völckers, künstlerische Direktorin der Bundeskulturstiftung, vorgeschlagen hat. Und man musste sich bei Bel, dem kunsttheoretisch beschlagenen Künstler, fragen: Was weiß der Tänzer über das, was er sagt und tut?

Der französische Choreograf und der „arme thailändische Tänzer“: Er habe gemerkt, dass er auf einmal das „kolonialistische Szenario“ aufgeführt habe, erklärt Bel. Das genau zeigt er in der Performance, deswegen macht er sich bewusst angreifbar. Er ist der Ethnograf, der die fremden Praktiken decodiert. Und er beansprucht Deutungshoheit, ist durchdrungen von der vermeintlichen „Überlegenheit“ seiner eigenen Kultur. Auf der Bühne kehrt sich die Situation am Ende um. Nun ist es Klunchun, der die Fragen stellt. Und auf einmal erscheint die avancierte Kunst von Jérôme Bel genauso erklärungsbedürftig und seltsam wie der Tanz eines Dämons. Bel insistiert zwar auf der Spaltung. Doch man erfährt, wie Gefühle und Zeichen die markierte Grenze überspringen und Verbindungen stiften können. Etwa wenn er ganz ohne Emotion eine Chiffre für „Tod“ vorführt und Klunchun sich an den Tod seiner Mutter erinnert fühlt.

Identität und kulturelle Differenz, Körper und Sprache: zentrale Themen des Kongresses, der mehr als nur Forum der Selbstverständigung ist. Am leidenschaftlichsten wird die Debatte immer dann, wenn gesellschafts- und bildungspolitische Fragen erörtert werden. „Tanz für alle“ – dazu stiftete der Choreograf Royston Maldoom an, der durch den Philharmoniker-Film „Rhythm Is It“ berühmt wurde. Viele eifern dem coolen Briten nach, hat er doch demonstriert, welche wunderbaren Resultate die Arbeit mit Jugendlichen haben kann. Maldoom blickt auf eine 30-jährige Erfahrung zurück; er hat mit Straßenkindern, Flüchtlingen und Inhaftierten gearbeitet.

Dass er in seiner Arbeit mit Jugendlichen klassische Musik verwendet, war nie ein Problem, versichert Maldoom. Man dürfe Menschen mit anderem Hintergrund die eigene Kultur nicht aufdrängen. „Lass sie ihre Entscheidungen treffen. Es gibt genug, was wir teilen können.“ Mit einem Appell verbindet Johannes Odenthal vom Haus der Kulturen der Welt seinen Vortrag. Wenn man über eine neue Kulturpolitik nachdenkt, sollte man das Wissen und die Erfahrung der Tänzer nutzen, forderte er, denn viele von ihnen arbeiten längst interdisziplinär, interkulturell und vermittlungsorientiert.

Es herrscht Aufbruchstimmung in der Tanzszene, seit der Tanzplan Deutschland auf den Weg gebracht wurde. Der Kongress dokumentiert, dass der Tanz sich seiner veränderten Rolle in Kunst und Gesellschaft bewusst ist – und dabei ist, sich neue Spielräume zu erobern.

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