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Kultur: Korps der Gefangenen

Die ganze Welt ist Guantanamo: Simon McBurney gastiert mit „Maß für Maß“ in Berlin

Rums, die Tür fällt ins Schloss. Schwer, scheppernd, eine Stahltür dem Klang nach. Gefängnisgitterstäbe. Rums. Klosterzelle. Rums. Regierungssitz. Eine Verhörsituation. Überwachungskameras. Die ganze Welt ist ein Gefängnis, und wir sind die Gefangenen. Rums.

Es ist eine simple Bühnenanordnung, in der die Londoner Theatergruppe Complicite unter Simon McBurney ihre Version von Shakespeares „Maß für Maß“ beim Festival „Spielzeit Europa“ im Haus der Berliner Festspiele präsentiert. Die Bühne: ein Quadrat, Lichtprojektionen bilden Zellen, Gitter, Spots, Madonnenbilder. Eine simple Anordnung – und ein beglückend weiter Raum für ein Ensemble, das Shakespeares gebrochenes Drama zur luziden Charakterstudie macht.

Das beginnt schon mit dem ersten Bild. Nebel, Regen über der Stadt, gefühlte Zeit: die Vierzigerjahre, ein Paar umarmt sich im Regen, ein bisschen Graham-Greene-Atmosphäre, und Film noir dazu. Herein schleicht, im Trenchcoat, der regierungsunwillige Duke, den Compagnie-Gründer McBurney selbst verkörpert. Ein tapsiger Greis, müde, verlottert, mehr Penner als weiser Fürst. Schnell und lustlos sein Abgang, Aktentasche und Vollmacht werden übergeben, Hubschrauber knattern, und weg der Spuk. Es beginnt: die neue Zeit. Angelo, ein smarter, intelligenter Statthalter, Typ Ingo Hülsmann, übernimmt das Regime, und unversehens sind wir im Heute gelandet. George W. Bush flimmert über die Mattscheibe, die Gefangenen tragen orangefarbene Overalls, Guantanamo oder US-Gefängnisse, und die Zuhälter Lucio und Pompey sind schwarz.

Fast zu viel Aktualität das, und doch hat man das erste Unbehagen schnell vergessen. Denn immerhin, es geht um Todesstrafe, um Recht und Ordnung und zuallererst um Machterhalt. Und, das macht McBurneys Inszenierung unmissverständlich, es geht um Selbstgerechtigkeit. Sie fühlen sich alle im Recht, zuvörderst der Duke, der als Mönch verkleidet durch die Stadt schleicht und doch eigentlich immer nur das eigene Lob hören möchte, ein Ränkeschmied, ein Laberkopf, dem die Wendung zum Guten, Richtigen am Ende nur unter größtmöglicher Eigenmächtigkeit gelingt. Oder Claudio (Ben Meyjes), inhaftiert wegen eines Vergehens, das er nicht als solches sieht, ein hübscher, rücksichtsloser Junge, der sich selbstmitleidig zum Christus stilisiert.

Vor allem aber gilt das für die Kontrahenten Angelo (Angus Wright) und Isabella (Naomi Frederick). Sie sind aus gleichem Stoff, und so lange sie rechten, kämpfen, argumentieren, sind sie auf Augenhöhe. Es ist ein atemberaubendes Kräftemessen, Staatsraison gegen Glaubenskraft, Erden-Moral gegen KirchenMoral, Menschenmaß um Gottesmaß. Überzeugungstäter, die beiden, Gesinnungsterroristen. Der Körper ist der Feind: Es ist eine Erektion, seine erste, die Angelo aus der Bahn wirft. Die aus ihm einen kalt berechnenden Erpresser macht, und aus ihr eine hitzig aufbrausende, hysterische Jungfer.

Unfrei, getrieben sind die beiden, wie alle anderen. Wie Fliegen zappeln sie im Netz. Das Gezwungene, Mechanische, das Shakespeares seltsamer Tragikomödie anhaftet, dieser schnelle Wechsel zwischen Burleske und Problemdrama, Politik und Philosophie, löst McBurney zwar in einen eleganten Spielfluss auf. Doch statt des Happy Ends steht bei ihm am Schluss ein noch größerer Gewaltakt. Von Seiten der Macht. Rums.

Noch einmal heute, 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele

Christina Tilmann

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