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Kultur: Kosmopolitismus: Wurzeln mit Flügeln

Die erbitterten Kontrahenten diesseits und jenseits der Hochsicherheitszäune des G8-Gipfels in Genua haben eines gemeinsam: Sie denken alle strikt global. Unsere politische und soziale Gegenwart ist von zahllosen internationalen Strukturen und Institutionen durchzogen.

Die erbitterten Kontrahenten diesseits und jenseits der Hochsicherheitszäune des G8-Gipfels in Genua haben eines gemeinsam: Sie denken alle strikt global. Unsere politische und soziale Gegenwart ist von zahllosen internationalen Strukturen und Institutionen durchzogen. Wir seien daher, so hört man immer öfter, auf dem Weg in eine "kosmopolitische Demokratie".

Doch was ist das eigentlich: Kosmopolitismus? Die griechische und römische Antike sah im Kosmopoliten den Philosophen, der sein Denken in der ewigen Einheit des Weltganzen verankert weiß. Klassik und Aufklärung betrachteten ihn als den Weltbürger, der die beengenden Bindungen angestammter Gemeinschaften überschreitet und ihre sittlichen Maximen in das Bewusstsein einer allumfassenden Humanität transzendiert.

Parallel zum Aufstieg des modernen Nationalismus im 19. Jahrhundert nahm das Bild des Kosmopoliten negative, bedrohliche Züge an. War er, der seine Affinität zu einer abstrakten, körperlosen Menschheit über die Hingabe an seine eigene Nation in ihrer staatlich definierten Form stellt, nicht ein potenzieller Hochverräter? Das Kosmopolitentum wurde nun zunehmend mit dem Judentum in Verbindung gebracht, das über Grenzen der Nationalstaaten hinweg von besonderen, schwer definierbaren Banden zusammengehalten wurde. Dass der "Kosmopolitismus" jüdisch und damit zersetzend sei, wurde bald zum Topos des ideologischen Antisemitismus. Der Nationalsozialismus setzte den Kosmopoliten ebenso mit "dem Juden" gleich wie Stalin, der seine antisemitischen Kampagnen der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre mit fantastischen Beschreibungen "kosmopolitischer" Verschwörungen gegen das sozialistische Vaterland ausschmücken ließ.

Zuletzt schien die wechselvolle Geschichte des ehrwürdigen Begriffs an ihr Ende gekommen zu sein. Sofern überhaupt noch gebräuchlich, bezeichnete "Kosmopolitismus" eine gewisse kultivierte Weltläufigkeit, die sich gegenüber fremden Lebensweisen aufgeschlossen verhält. Ist aber, wer italienische Anzüge trägt, im chinesischen Restaurant souverän die Stäbchen schwingt und beim Urlaub im mallorquinischen Hinterland mit den einheimischen Verkäufern in der Landessprache parliert, schon ein Kosmopolit? Das Ideal aus der europäischen humanistischen Bildungstradition schien zu einem Modus des modernen Lifestyle herabgesunken zu sein. Jetzt aber meldet sich eine Strömung in der internationalen Community der Kultur- und Sozialwissenschaftler zu Wort, die dem ehrwürdigen Konzept neues Leben einhauchen will.

Im Zeichen der Globalisierung mit ihren neuen Dimensionen von Migration und Kulturmischung könne der Kosmopolitismus zum positiven Leitbild für die Herstellung einer Gemeinsamkeit in der Vielfalt werden, die auf Assimiliation und Zwangsintegration verzichtet. Das neue kosmopolitische Paradigma soll aber auch das Konzept des "Multikulturalismus" ersetzen, das die Existenz geschlossener, voneinander getrennter kultureller Kollektive suggeriert.

In Wirklichkeit findet in den offenen Gesellschaften des Westen ein in diesem Ausmaß und Tempo nie dagewesener kultureller Transformationsprozess statt. Unterschiedlichste kulturelle Einflüsse stoßen auf engstem Raum aufeinander und gehen miteinander neuartige - oft konfliktreiche - Verbindungen ein, ohne dass die ursprünglichen kulturellen Zugehörigkeitsgefühle aufgegeben würden. Immer mehr Menschen mit Dopppelpässen schaffen ein komplexes Geflecht geteilter staatsbürgerlicher Loyalitäten. In einer Epoche ohne zwangsverordnete "Leitkultur" und angesichts des Nachlassens der Integrationskraft bestehender Nationalstaaten müsse, so sagen die Propheten des "neuen Kosmopolitismus", der gemeinsame zivilisatorische Nenner kulturell heterogener Gesellschaften aus einer anderen Quelle gewonnen werden. Als ein solcher ideeller Bezugspunkt "transnationaler" Identitäten biete sich der Erfahrungsschatz praktisch erlebten Weltbürgertums an.

Wo aber ließe sich danach besser suchen als in der Geschichte des Judentums, dem ja seit jeher eine kosmopolitische Existenz nachgesagt wird? Zwei Dutzend namhafte Historiker, Soziologen, Literaturwissenschaftler und Philosophen aus Israel, Großbritannien, den USA und Deutschland trafen sich jetzt auf Schloss Elmau, um der Frage nachzugehen, was an der Rede von der besonderen jüdischen Affinität zum weltbürgerlichen Gedanken kulturhistorisch verbürgt ist und inwieweit sie nur mystifizierenden Zuschreibungen geschuldet ist.

Darüber, dass die jüdische Diaspora-Erfahrung nicht ohne weiteres mit modernen Kosmopolitismus-Idealen in Zusammenhang gebracht werden kann, waren sich die anwesenden Spezialisten für jüdische Historiographie bald einig. Gleich zu Beginn der Tagung bestritt der Jerusalemer Historiker Michael Toch vehement, dass die Juden jemals kosmopolitischer eingestellt gewesen seien als irgendeine andere ethnische Gemeinschaft. Das jüdische Exil wurde keineswegs durch den Traum von einer in universellem Humanismus vereinten Menschheit zusammengehalten, sondern von der Sehnsucht nach der verheißenen Rückkehr ins angestammte Heimatland. Die in alle Welt zerstreuten Diasporagemeinden bewahrten mittels dieses religiösen Messianismus ihre Einheit und Besonderheit, passten sich aber, so weit dies möglich war, den gesellschaftlichen und kulturellen Gepflogenheiten der Gastländer an. Der Mythos von Ahasver, der ruhelos über den Erdball streift, hat mit der jüdischen historischen Wirklichkeit wenig zu tun. Die besaß durchaus starke lokale Wurzeln, wenn auch, wie es der Soziologe Ulrich Beck in Elmau sehr schön ausdrückte, "Wurzeln mit Flügeln". Der Widerstreit zwischen Partikularitätsbewußtsein und - erzwungener - kosmopolitischer Orientierung prägte die jüdische Identitätsfindung auch unter den Bedingungen der modernen Säkularisierung . Die Rothschild-Familie, die zum Inbegriff eines modernen, transnational operierenden Judentums wurde, fühlte sich, so erläuterte Amos Elon, den Werten und Anliegen der traditionellen jüdischen Gemeinschaft zutiefst verpflichtet. Der Zionismus kombinierte auf eigenartige Weise die Fortschrittstradition des aufklärerischen Universalismus mit dem Prinzip des ethnischen Nationalismus. Es war freilich genau diese unaufhebbare Ambivalenz ihres Selbstverständnisses, das die Juden zum Auslöser paranoider Zersetzungsängste prädestinierte. In der Vorstellungswelt der Antisemiten waren sie, wie Dietrich Schwanitz ausführte, gerade deshalb so gefährlich, weil sie sowohl innerhalb als auch außerhalb des "Volkskörpers" wirkten, weil sie zugleich örtlich verankert und in eine ortlose Transzendenz entrückt waren.

So wenig der Kosmopolitismus der religiösen jüdischen Tradition inhärent ist, so sehr diente er doch der aufgeklärten-liberalen jüdischen Bildungselite als Identifikationsmuster für ihre Emanzipationsbestrebungen im 18. und 19. Jahrhundert. Dass aber die soziale Alltagsrealität "der Juden" insgesamt von einem weiteren humanistischern Horizont geprägt gewesen wäre als die ihrer Zeitgenossen, ist ein philosemitisches Klischee. In einem hinreißenden Vortrag machte die New Yorker Kulturwissenschaftlerin Atina Grossmann in Elmau deutlich, wie überaus durchschnittsdeutsch sich die meisten jüdischen Flüchtlinge verhielten, die vor den Nazis nach Amerika entkommen konnten. Gerade dass sie hartnäckig an seltsamen deutschen Sitten und Gebräuchen wie Spazierengehen oder "Sich-zum-Kaffee-und-Kuchen-Treffen" festhielten, liess sie in den Augen der Einheimischen als exotisch und insofern "kosmopolitisch" erscheinen. Gleichwohl akzeptierten die deutschen Juden in den USA die neue gesellschaftliche Umgebung meist sehr schnell als ihre neue Heimat, so dass ihr Integrationsprozess in die amerikanische Gesellschaft schon in der zweiten, spätestens in der dritten Generation abgeschlossen war.

Der Kosmopolitismus war ein Ideal der europäischen aufklärerischen Moderne und ein negatives Projektionsbild für die Feinde der von ihr ausgebildeten Idee vom universalen Menschenrecht. Die realen lebensweltlichen Prozesse, die zur Herausbildung pluralistischer Gesellschaften führten, spielten sich jedoch jenseits vorgefertigter Muster dessen ab, was oder wie "der Mensch" zu sein habe. Es ist daher fraglich, ob ein historisches Paradigma wie der Kosmopolitismus als Beschreibungsmodell auf die heutigen Globalisierungsprozesse übertragbar ist. Denn das wirklich Neue an den aktuellen kulturellen Umwälzungen ist ja gerade, dass sie das alteuropäische Gegensatzdenken zwischen dem Partikularen und dem Universalen, zwischen dem Lokalem und dem Globalen aufbrechen. Wir dürfen heute ruhig Provinzler sein, ohne befürchten zu müssen, von der großen weiten Welt abgekoppelt zu werden, und wir können umgekehrt eine mobile, multinationale und multilinguale Existenz kultivieren, ohne dabei die Verbindung zu den alltäglichen, ortsgebundenen Wirklichkeiten zu verlieren.

Solches Durcheinander von anscheinend Unvereinbarem beunruhigt jedoch selbst noch die progressivsten Gesellschaftswissenschaftler. Fürchten sie doch, das ganze unberechenbare Gewimmel irgendwann einmal gar nicht mehr unter ihre ohnehin schon immer großzügiger auslegbaren Kategorien subsumieren zu können - und den eigenen Laden womöglich wegen Überflüssigkeit schließen zu müssen. Groß war jedenfalls der Schreck, als Natan Sznaider, Soziologe aus Tel Aviv, die Forschergemeinde in Elmau mit einem flammenden Bekenntnis zur egalisierenden, pazifizierenden Wirkung des Geldkreislaufs und des kapitalistischen Konsumprinzips provozierte. Die Aussicht, an den universellen Freuden des Warenkonsums teilzunehmen, befördere die Herausbildung eines weltbürgerlichen Bewusstseins effektiver als sämtliche Appelle an Humanität und transkulturelles Einfühlungsvermögen. Der Massenkonsum bringe soziale Hierarchien zum Tanzen und zum Wanken, ebne die Grenzen zwischen Nationen, Religionen und Kulturkreisen ein und bereite das Feld für flexiblere, individualisierte Modelle von Zusammengehörigkeit. Dass es die gleichmacherische, gegenüber den individuellen kulturellen Präferenzen indifferente Macht von Geld und Konsumption sein könnte, die Menschen aller Herren Länder am Ende einanander näher bringt, ohne dass sie vorher moralisch gebessert werden müssten, ist die denkbar radikalste Gegenthese zur europäischen geistesgeschichtlichen Bildungstradition. Der aber können auch von avanciertestem neokosmopolitischem Forschergeist durchdrungene geisteswissenschaftliche Diskurse offenbar nur schwer entkommen.

Richard Herzinger

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