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Kultur: Krankes System

Der Polizei ist es peinlich, die Patienten sind verblüfft, der Rest der Welt erhält seltenen Stoff zum Erkenntnisgewinn. Immer wilder wird die Geschichte des Wunderheilers Doktor Dragan Dabic, der unlängst in Belgrad als Radovan Karadzic, weltweit gesucht wegen Massenmordes und Vertreibungen, enttarnt und verhaftet wurde.

Der Polizei ist es peinlich, die Patienten sind verblüfft, der Rest der Welt erhält seltenen Stoff zum Erkenntnisgewinn. Immer wilder wird die Geschichte des Wunderheilers Doktor Dragan Dabic, der unlängst in Belgrad als Radovan Karadzic, weltweit gesucht wegen Massenmordes und Vertreibungen, enttarnt und verhaftet wurde. In seinen Belgrader Nächten verkehrte Karadzic, studierter Psychiater, bis vor einer Woche inkognito als Volksmusik singender, weißbärtiger Kenner von Kräuterschnäpsen in der Kneipe „Luda Kuca“, Irrenhaus. Tags verkaufte er Heilkräuter gegen Impotenz oder Migräne. Jetzt kommt heraus: Sein Ruf als Guru zog auch die serbische Gemeinde in Wien an. Dort wohnte er bei den Klienten, das sparte Spesen, und kein Hotelier registrierte den Gast. Auf der Suche nach einem Täter, der seinen Partner beim Pokern in einer Wiener Kneipe erschossen hatte, drang die Kripo-Einheit „Cobra“ im Mai 2007 auch zur Bleibe des Heilpraktikers vor. Im Pyjama traf man ihn an, er nannte sich Petar Glumac – „Glumac“ ist das serbische Wort für Schauspieler. Um den harmlos wirkenden Greis kümmerten sie sich nicht weiter.

Die Lehre aus der Geschichte ist nicht „schon wieder Österreich“, auch wenn dort angeblich der Balkan beginnt. Die Einsicht in das Geschehen kann weiter reichen. „Doktor Dabic“ und „Petar Glumac“ sind Symptome für ein ganzes Syndrom. Drastisch bebildern sie Systeme aus Verschleiern, Narren, Verleugnen, Posieren, Rächen und Verdrehen, wie sie sich über Generationen in dysfunktionalen Familien oder Gesellschaften entwickeln können. Werte und Vorzeichen verkehren sich dabei. Der Psychiater, der Seelen heilen sollte, mutiert zum Kriegstreiber, der Albtraum wird zur Utopie, etwa der einer „ethnischen Säuberung“.

Dringt die Realität in dieses System ein, bedroht das die grandiosen Verzerrungen – das ist die Krise. Um ihr zu entgehen, bildet das System Kompromisse. Viele „Doktor Dabics“ machen dann Kasse. In Serbiens Buchläden bersten die Regale vor Esoterik und „alternativer Heilkunde“, private Fernsehsender bieten Kartenleserinnen, Pornografie und Wahrsagerinnen an. Größter Schrecken des alten Systems sind klare, neutrale Orte wie das Haager Tribunal, wo die Kopf stehende Welt auf die Füße gestellt werden kann: Ein Realitätseinbruch, der kaum auszuhalten ist. Karadzic-Dabic-Glumac repräsentierte in jeder seiner Rollen Teile des serbischen Syndroms. Als Angeklagter in Den Haag dürfte er in seine psychische Requisitenkammer greifen und seine Rollen abwechselnd ausprobieren. Das Gericht und die Öffentlichkeit, gerade die serbische, sollten darauf vorbereitet sein, viele Maskeraden zu durchschauen.

Caroline Fetscher über den W, erheiler Radovan Karadzic

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