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Kultur: Kremlins aus dem Zwischenreich

Ostblockbuster gegen Hollywood: Das Fantasy-Epos „Nachtpatrouille“ erobert Russlands Kinos

Jeder Moskauer kennt dieses Kribbeln. Es kommt mit der Dämmerung: Wenn die letzten Sonnnenstrahlen im Abendsmog tanzen, dann verwandelt sich dieses irrwitzige Stadtgetüm mit seinen zehnspurigen Innenstadtmagistralen, seinen himmelstürmenden Kommerztempeln, goldglänzenden Kirchenkuppeln und neogotischen Stalintürmen in ein undefinierbares Zwischenreich, in dem sich der Mensch merkwürdig fehl am Platz fühlt. Wem gehört diese Stadt? Den neuen Russen oder den alten Kadern? Den Trinkern, den Spinnern oder den Kakerlaken? Muss sie vielleicht erst noch erfunden werden, jene Spezies, die in den wirren Linien dieser Stadt einen Sinn finden kann?

Letzteres behauptet ein Film, von dem derzeit ganz Russland spricht. In „Notschnoj Dosor“ (Nachtpatrouille) gehört Moskau den Inye, den Anderen, einer lichtscheuen Fabelgattung zwischen Vampir, Werwolf und mythischer Gottheit, die tagsüber ein unauffälliges Dasein in Menschengestalt führt. Geschickt erzählt der Film, was die meisten Moskauer schon immer ahnten: Menschen sind nur Statisten in dieser Stadt, schlafwandelnde Zombies in einem Betongebirge, dessen eigentlicher Daseinsgrund ein Kampf zwischen den Mächten des Lichtes und der Dunkelheit ist.

Mitte Juli ist Timur Bekmambetows düsteres Fantasy-Epos russlandweit angelaufen, um bereits am ersten Wochenende über fünf Millionen US-Dollar einzuspielen und zum erfolgreichsten russischen Film aller Zeiten zu avancieren. Inzwischen hat „Notschnoj Dosor“ selbst Hollywood-Konkurrenten wie „Spider-Man 2“ und „Troja“ von den Spitzenplätzen verdrängt und hat mit einem Einspielergebnis von über 14 Millionen Dollar gerade den dritten Teil der „Herr der Ringe“-Saga als bislang erfolgreichsten in Russland gezeigten Film abgelöst.

Der Erfolg scheint selbst die Erwartungen der Macher übertroffen zu haben, die alles daran gesetzt hatten, den ersten echten Blockbuster der russischen Kinogeschichte zu produzieren. Hinter „Notschnoj Dosor“ stehen der mächtige Erste Kanal des russischen Staatsfernsehens und dessen Generaldirektor Konstantin Ernst, der bereits Wochen vor dem Kinostart eine für russische Verhältnisse gigantische PR-Kampagne lanciert hatte. Ganz Moskau wurde flächendeckend mit Plakaten überzogen, an Häuserwänden tauchten Graffiti wie „Meide die Dämmerung" auf. Landesweit lief der zwei Millionen Dollar teure Film in 310 Kinos gleichzeitig an, einer für postsowjetische Verhältnisse spektakulären Zahl. Ein zweiter, bereits abgedrehter Teil ist für März 2005 angekündigt, ebenfalls geplant sind eine Fernsehadaption im Serienformat, eine DVD-Version und ein Computerspiel. Seit Wochen tourt Konstantin Ernst zusammen mit dem Regisseur durch die russischen Talkshows und wagt die Prognose, „Notschnoj Dosor“ werde dem russischen Kino den Weg für ein Revival ebnen. Zurzeit sei nur jeder zehnte hierzulande gezeigte Film russischer Herkunft, schon in den nächsten zwei Jahren könne dieser Anteil auf ein Viertel gesteigert werden.

Nun macht ein Film noch keine Tendenz. Zumindest aber beweist der spektakuläre Erfolg von Notschnoj Dosor, dass großes Publikumskino in Russland wieder möglich ist. Bekmambetows Film kommt den Bedürfnissen einer Zielgruppe entgegen, die sich vor allem aus der jungen, stetig wachsenden Mittelschicht der russischen Großstädte rekrutiert. Das Fantasy-Genre, insbesondere die Bücher von Sergej Lukjanenko, auf denen der Film basiert, sind ungemein populär. „Notschnoj Dosor“ adaptiert die mystische Romanvorlage mit visuellen Effekten auf Hollywood-Niveau, setzt jedoch gleichzeitig auf den Wiedererkennungseffekt der bizarren Moskauer Stadtsilhouette, auf verdreckte Kommunalka-Küchen, klaustrophobisch enge U-Bahn-Waggons und den Wahnsinn des innerstädtischen Autoverkehrs. Einen Film, der die Oberfläche des heutigen Moskau derart bildgewaltig einfängt, gab es in Russland bislang nicht.

Bislang beschäftigt sich das russische Kino selten mit der Gegenwart. Große Filmprojekte loten lieber die Sowjetvergangenheit aus, wenn sie nicht gleich, wie Alexander Sokurows „Russische Arche“, als Gesamtschau der russischen Geschichte daherkommen. Mit besonderer Hartnäckigkeit widmet man sich nach wie vor dem „Großen Vaterländischen Krieg“. Gegenwartskino kommt in Russland meist in Form wunderlicher Räuber-und-Gendarm-Filme daher, die das Potenzial zur gesellschaftskritischen Bestandsaufnahme an eine verklärende Männerromantik verschenken. Ob im Dunstkreis des organisierten Verbrechens oder an der Front angesiedelt, die Filme von Jegor Kontschalowskij und Alexej Balabanow geben ihre testosterongetränkte Attitüde bereits im Titel preis: „Antikiller“, „Bruder“, „Krieg“.

So fehlen in Russland bislang Filme, die ihre analytische Kraft der Gegenwart widmen. Das tut weder Andrej Swjaginzews Venedig-Gewinner „Die Rückkehr“, in dem drei geschichtslose Protagonisten auf einer entlegenen Insel miteinander ringen, noch tut das „Notschnoj Dosor“, der den mythischen Kampf zwischen Licht und Dunkel in episch-vorgeschichtlicher Zeit oder in den Urgründen der Seele verortet, nicht aber in der Jetzt-Zeit. Hinter diesem blinden Fleck steckt weniger ängstliche Scheu als die vehemente Abscheu vor dem Politischen. Wer das Kino zur Aktualität mahnt, stößt in Russland meist auf Unverständnis: Das Leben hier, so das gängige Argument, sei schäbig genug – warum solle man das auch noch im Film zeigen?

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