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Kultur: Kreter lügen!

Alfred Kerr über die Pleite-Griechen

„Heute steht Griechenland vor einem Kampf. Aber den Völkern der Erde, insbesondere den Berlinern, ist dieser Kampf, um mit dem Dichter zu sprechen ,gleichgiltig’. Weiß der Himmel, die Zeiten sind vorüber, wo Byron die Flotte des Maurocordatus bezahlte. Die Zeiten sind vorüber, wo ein dessauischer Bibliothekar namens Wilhelm Müller in langgestreckten Verszeilen von dem gefangenen Griechenfürsten Ypsilanti dichtete.

Ja, damals ging es uns schlecht, und deshalb hatten wir starkes Mitgefühl für Völker, die in ähnlicher Lage waren. Doch wie ein Sozialdemokrat, der in der Lotterie gewinnt, ein Bourgeois wird: also wurden wir wurstig, seitdem man uns geeinigt hat. Unsere Wurstigkeit ist ein schönes Zeichen für die politische Erstarkung. Dazu kommt etwas anderes. Völker, die lange eine lyrische Rolle spielten, werden immer ein bisschen komisch. Die Griechen sind es geworden, seit man in ihnen weniger blutige Türkenopfer als blutige Pleitemacher sah.

Früher galt es als europäische Ehrenpflicht, ihr Schicksal zu verbessern; jetzt schiebt Europa ihnen selber eine Neigung zum corriger la fortune in die Schuhe. Mit der ganzen Ungerechtigkeit, welche in Pauschalurteilen liegen kann, zeiht man dieses edle Hellenenvolk der grundsätzlichen Mogelei beim Spiel. O unerhörte Roheit – aber es ist so. Vergebens protestieren Odysseus’ harmlose Nachkommen gegen den Beigeschmack des Wortes ,grec’ – er bleibt auf allen europäischen Rouletteplätzen an ihnen kleben. Und gar Kreta! Schon Epimenides sagte, dass alle Kreter lügen. Wird sich Europa um so eine unmoralische Insel ein Bein ausreißen?“

Am 14. Februar 1897 erschien dieser „Berliner Brief“ Alfred Kerrs in der Breslauer Zeitung. Kerr spielt auf den türkisch-griechischen Militärkonflikt um die Insel Kreta an. Bereits im Jahr 1893 war der griechische Staats bankrott gegangen. Als „Grec“ bezeichnete man damals Falschspieler. F. H.

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