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Kultur: Kriechen in der Hölle

Ein fast perfektes Verbrechen: Michael Thalheimers „Orestie“ am Deutschen Theater Berlin

Die Zeit kriecht. Die Zeit ist eine Leiche: Agamemnon. Wie eine blutige Nacktschnecke liegt er auf der hohen Rampe, drückt sich millimeterweise von links nach rechts. Und über ihm, dem ermordeten Sieger von Troja (Henning Vogt), wird literweise dickes Blut ausgegossen, stirbt Klytaimnestra, seine untreue Frau und Mörderin, stirbt Aigisthos, ihr Liebhaber: Untote. Orestes, der Rächer, steht nicht anders da; verschmiert, besudelt, vom menschlichen Schlachtvieh selbst nicht zu unterscheiden.

Ein Bild wie aus dem Museum des abstrakten Expressionismus. Bühnenmalerei mit einem einzigen Motiv. Die Saaltüren des Deutschen Theaters stehen offen, gleißendes Licht im Zuschauerraum, die Bühne vernagelt mit Sperrholzplatten. Die Spielfläche: eine Art Stufenaltar, nicht einmal zwei Meter tief. Beim Applaus nachher rutschen die Schauspieler ein ums andere Mal in dem Blutsumpf aus, kaum dass sie sich aus ihren Opferrollen befreien können.

Griechenland, Kriecherland. Die „Orestie“ des Aischylos als Schmierentragödie. Auf hundert Minuten, Weltrekord vermutlich, schieben Regisseur Michael Thalheimer und sein Szenograf Olaf Altmann die Trilogie zusammen, und in diesem strengen, engen Rahmen dehnt sich das Zeitempfinden. Man kann nicht sagen, dies sei ein kurzes Stück. Thalheimers Kunst: die Verdichtung der Materie. Er bringt jeden Klassiker auf normale Spielfilmlänge, vielleicht hat man sich an seine Reduktionsästhetik gewöhnt. Seltsam ist jedenfalls bei dieser gestampften „Orestie“ (nach der Fassung von Peter Stein, bei ihm damals an der Schaubühne dauerte das Spiel einen ganzen Arbeitstag), dass man nichts Wesentliches zu vermissen glaubt. Was da ist, ist intensiv.

Der dritte Teil, die „Eumeniden“, der Umschlag der Blutrachetradition in attische Demokratie und Vernunft, ist komplett weggefegt. Bis auf einen Satz. „Frieden für immer“, brüllt der vielköpfige Chor, den Thalheimer unsichtbar im zweiten Rang platziert. Von wegen: Das dunkelrote Panorama bleibt. Wie auch zu Beginn das helle Holz des Atridenpalastes blutige Flecken zeigt. Das steckt tief drin. Nicht abwaschbar. Schlimme Aussichten. Gewalt wird weiterregieren. Thalheimers Parole „Tun, Leiden, Lernen“, das der Chor dem Publikum mit penetranter Lautstärke in den Nacken brüllt, verheißt das schiere Gegenteil. Lernen wird keiner aus dem Blutbad, das kann hier immer nur so weitergehen. Der internationale Göttergerichtshof der „Eumeniden“ hat nur ein großes Maul, sein „Frieden“: eine Drohung.

Thalheimer produziert eine undurchdringliche Fatalität. So stellt er sein junges Ensemble auf. Constanze Becker (in Andres Veiels Schauspielschulenfilm „Die Spielwütigen“ war sie die Tragödin) isst noch ein letztes Brötchen, trinkt noch eine Dose Bier – und es geht ans Abschlachten. Sie hat bereits eine erstaunliche Härte im Ausdruck, diese Schauspielerin, ein geborenes Theatertier, wenn auch ihre Todes- (oder besser) Lebensverachtung ein bisschen dahingestellt wirkt. Aber das ist bei diesem Regisseur häufig zu beobachten – seine Akteure müssen von null auf hundertachtzig beschleunigen, aus dem Stand gegen die Wand. Deshalb schlottern Michael Benthins Aigisthos vom ersten Augenblick an die Knochen, er raucht zitternd, ein Nervenbündel, er zieht seinen Mörder an. Zwischen Magie und Mätzchen liegt bei Thalheimer nur ein Wimpernschlag.

Keine Gnade: Kassandra (Katharina Schmalenberg) und auch Elektra (Lotte Ohm) schieben sich wie sprechende Statuen mit weit aufgerissenen Augen und vom nahenden Unheil schon verbogen durchs Bild. Aufreizend dämlich und unbeteiligt schlurft Michael Gerber einmal als Herold, ein andermal als Amme auf der Blutspur vorüber, er staubt wie ein Mehlsack; nur eine kleine, leidlich komische Entlastung.

So schnell, so quälend: Schon ist Orestes zur Stelle und macht sich in die Hosen. Will nicht mitmachen bei der Blutrache. Stefan Konarske, ein Ernst-BuschSchüler, spielt seine erste große Rolle am DT: eine Entdeckung! Ein Typ wie August Diehl. Weinerlich und im nächsten Moment erschreckend kantig, wild entschlossen: so weit ein Thalheimer-Schauspieler einen freien Willen haben kann. Konarske steigert sich mit Klaus-Kinski-Grimassen in den Muttermord, in einen geilen Rausch. Und das ist auch die einzige Bluttat, die man tatsächlich zu sehen bekommt. Er erdrosselt die (gleichaltrige) Klytaimnestra mit seinem blutigen T-Shirt. Für einen Moment hat das auch etwas Befreiendes. Was geschrieben steht, ist erfüllt und abgetan.

Sicher, die „Orestie“ ist ein anderer Stoff als Goethes „Faust“ und Lessings „Emilia Galotti“. Aber man sieht auch, wie Thalheimer das Spielerische, Tänzerische, das elegante Andeuten dramatischer Gesten aufgibt. Jetzt wird hingelangt, es bleibt nicht bei der Symbolik. Die Zeiten, da eine Thalheimer-Figur im Stehen oder Sitzen starb, wie abgeschaltet vom Stromkreis der Inszenierung, scheinen vorüber. Er demonstriert, dass Aischylos, der Ursprung des abendländischen Theaters, ein atavistischer Abgrund ist. Den dritten, den zivilisierenden Akt, lässt er schlicht nicht gelten.

Hundert Minuten Eisigkeit. Was steckt dahinter? Was ist hinter der Sperrholzwand? Thalheimer negiert den Guckkasten, macht das Parkett zur Bühne. Der brüllende Chor, der kaum je die finstere Tonart wechselt, bleibt oben auf den billigen Plätzen, in der Loge sitzt der Gitarrist. Kalle Kalima und Bert Wrede zupfen, tupfen einen Soundtrack, der an die Doors erinnert („The End“) und an die Musik in David-Lynch-Filmen. Auch hier kaum Variation. Hundert Minuten dehnen sich zu einer Erfahrung von Gefangensein im Theater. So offen sind die Türen, mit Blick ins rote Foyer, dass man sich keinesfalls hinaustraut. Nichts also mit Katharsis. Thalheimer will Aischylos auf den Kopf stellen. Die Griechen, sie kriechen im eigenen Dreck. Ihre Demokratie ist ein trojanisches Pferd, das nur Verderben bringt. Thalheimers „Orestie“: ein kräftig hingerotzter Abend. Ein kaltblütiger Mord.

Wieder heute und am 28. und 29. 9.

Rüdiger Schaper

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