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Tanz um das Tier. Zwei Dritteln der Spanier ist der Stierkampf egal. Hier eine Szene aus der Arena von Valencia im März.

© dpa

Spanien: Krieg der Stiere

Wird Spanien ausgerechnet über den Stierkampf zerbrechen? Tierquälerei oder Kulturerbe: Was das Corrida-Verbot mit Spaniens Identitätskrise zu tun hat.

Wenn ich über den Stierkampf nachdenke, erinnere ich mich sofort an meinen Großvater Paco. Ohne ihn könnte ich weder erklären, warum Katalonien den Stierkampf ab 2012 verbietet, noch, warum man im Rest Spaniens so fanatisch darauf reagiert. Es war Anfang der achtziger Jahre. Mein Opa Paco saß in der Stierkampfarena von Miraflores, einem Dorf bei Madrid. Er trug sein bestes Hemd und schaute sich einen Kampf an. Ich war damals etwa neun Jahre alt und buddelte mich durch die Erde in die Arena. Sie bestand aus roten Blechplatten, man konnte sie auseinandermontieren und an einem anderen Ort wieder aufbauen. Heute sind die Arenen aus Beton. Mit meinem dreckigen Hemd setzte ich mich auf die Tribüne, ohne gezahlt zu haben, und mein Opa lächelte mir zu.

Francisco González, so hieß mein Großvater, hatte im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft. Er war ein „Roter“, erzählte mir oft vom Krieg gegen die Faschisten, von seinen republikanischen Kameraden und den „katalanischen Brüdern“. Über den Stierkampf verlor er nie ein Wort.

Mein Opa war zwar ein Fan, doch für ihn und seine Generation hatte das Spektakel keine Bedeutung über den eigentlichen Kampf hinaus. Vor dem Bürgerkrieg genossen die Spanier den Stierkampf ohne viel Aufhebens – linke Republikaner genauso wie rechte Nationalkatholiken. In García Berlangas Film „La Vaquilla“ von 1985 schleicht sich eine Gruppe republikanischer Soldaten auf feindliches Gebiet, um eine Kuh zu stehlen und ein bisschen Stierkampf zu spielen. Die Komödie endet in einer Odyssee, bei der Soldaten beider Seiten das Tier jagen.

Erst das Franco-Regime politisierte den Stierkampf. Für den Diktator repräsentierte der Stier das „großartige und einzige Spanien“, er wurde zum Symbol der Diktatur. Damit hatten die Randregionen mit ihren Unabhängigkeitsbestrebungen, allen voran Katalonien und das Baskenland, aber auch ein Inbild für den Feind gefunden. Für die Mehrheit der Linken und Intellektuellen spiegelte der Stierkampf ohnehin die Rückständigkeit und Provinzialität des Landes wider. Dann ließ der Weinbrandhersteller Osborne Mitte der fünfziger Jahre an den spanischen Straßen auch noch riesige Werbetafeln in Stierform aufstellen. Die Silhouette wurde zur Ikone – und der Stier im Ausland zum Synonym für Spanien.

Was würde mein Großvater, der 1992 starb, zum Stierkampfverbot seiner „katalanischen Brüder“ sagen? Dazu, dass Mariano Rajoy, Chef der rechtskonservativen Partido Popular (PP), glaubt, das Vaterland stehe auf dem Spiel? Was hat das Vaterland mit einem Gesetz zu tun, das sich aus einem Volksbegehren mit 180 000 Unterschriften ableitet, bei dem es ursprünglich um den Tierschutz ging?

Ich glaube, mein Großvater würde sagen: „In Spanien kann man die Politik nicht ohne Fußball und Stiere verstehen.“ Er hat wahrscheinlich recht. Bei der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika hat „die Rote“ (wie unsere Nationalmannschaft seit kurzem genannt wird) bekanntlich für ein Wunder gesorgt. Plötzlich lag das Land nicht mehr am Boden, plötzlich war die spanische Flagge nicht mehr nur das Symbol der Rechten, sondern flatterte von allen Balkons. Der Stolz auf das Team hatte ganz Spanien erfasst. Sogar in Katalonien bewunderte man die Auswahl, natürlich auch, weil die katalanischen Asse stachen: Xavi, Puyol, Piqué, Fábregas ...

Doch das katalanische Märchen endete noch vor dem großen Finale. Das spanische Verfassungsgericht fällte sein lange erwartetes Urteil: Das Selbstverwaltungsgesetz Kataloniens ist verfassungswidrig. In Spanien, so der Richterspruch, existiert nur eine Nation, die spanische. Katalonien explodierte vor Zorn. Nur einen Tag vor dem WM-Finale gegen die Niederlande zogen mehr als eine Million Katalanen durch Barcelona und forderten: „Wir sind eine Nation“ und „Wir entscheiden“.

Die Reaktionen der Politiker fielen nicht weniger heftig aus: José Montilla, Präsident der autonomen Regierung, sprach von einer Demütigung. Artur Mas, Führer der konservativen Partei Convergencia i Unió, meinte, nun sei der Zeitpunkt gekommen, um sich von Spanien zu trennen. Und Joan Laporta, ehemaliger Präsident des FC Barcelona, gründete die national-katalanische Partei Solidaritat Catalana per la Independència. Die See war aufgewühlt.

Dann kam der Hurrikan, das Stierkampfverbot. „Catalonia bans bullfighting“: In den USA schlussfolgerte man, der Kampf gegen die Tierquälerei sei gewonnen. Aber ging es wirklich um die Tiere? Der Journalist Javier Rada, der zurzeit ein Buch über den Stierkampf schreibt, weist auf einen interessanten Widerspruch hin. Das neue Gesetz nimmt die correbous (Stierrennen), die im Süden Kataloniens eine lange Tradition haben, vom Verbot aus. Dabei werden den Tieren Fackeln auf die Hörner gebunden, sie werden an Stricken gezogen und ins Meer geworfen. Wie erklärt man sich, dass die spanische Art der Stierquälerei, die corrida de toros (bei der der Stier in einer Arena getötet wird), zwar verboten wird, die katalanische aber geschützt bleibt? Weil die Tiere „nur“ malträtiert, aber nicht getötet werden? Oder geht es in Wahrheit um einen Kulturkampf?

Der Stadtrat von Barcelona verdammte den Stierkampf schon 2004 in einer Petition als „grausame Praxis“. Dennoch fanden in der Arena Monumental de Barcelona weiterhin corridas statt. Der Torero José Tomás trat nicht nur gegen einen Stier an, sondern gegen sechs, und die konservative katalanische Zeitung „La Vanguardia“ druckte eine Eloge auf das Bravourstück. Unter dem Titel „Die sixtinische Kapelle des Stierkampfs“ stand da: „An seinen Händen, seinem Herz und seinem roten Tuch erkannte man die Pinselstriche Picassos, Ramon Casas’ oder Miquel Barcelós; die Lyrik eines Alberti oder Lorca. Es war der Beweis für die Lebendigkeit des Stierkampfs, eine bewegende Replik auf die Intoleranz. Schönheit kann man nicht verbieten.“

Seit ich als Kind heimlich in die Stierkampfarena von Miraflores kroch, bin ich selbst übrigens nie wieder in einer Stierkampfarena gewesen. Ich habe zwar AC/DC und B. B. King in der berühmten Ventas de Madrid gesehen, aber ich schätze, das zählt nicht. Ich kann eine corrida von einem encierro unterscheiden (wenn die Stiere wie in Pamplona durch die Straßen getrieben werden). Aber sonst? Ich wuchs in Ignoranz gegenüber diesem angeblichen nationalen Kulturgut auf und gehöre damit zu jenen 69 Prozent der Spanier, die sich laut einer Umfrage von 2002 nicht für den Stierkampf interessieren. In Katalonien bekannten sich sogar 79 Prozent zu ihrem Desinteresse. Es dürfte sie ebenso wütend machen wie mich, wenn man im Ausland meint, in Spanien drehe sich alles um Stiere. Und vor allem, dass das immer so gewesen sei.

Nur wenige junge, fortschrittliche Spanier dürften die Meinung des Philosophen Fernando Savaters teilen, der meinte: „Es ist kein Missbrauch, von der Henne Eier zu bekommen, vom Schwein Schinken, vom Pferd Geschwindigkeit und vom Stier Tapferkeit.“ Tatsächlich haben viele spanische Künstler und Intellektuelle den Stierkampf entweder ignoriert oder kritisiert. Miguel de Unamuno, Schriftsteller der einflussreichen Generation von ’98, sagte, dass ihn der Stierkampf abstoße. Goya malte Stierkämpfe, sicher, aber er malte sie so, wie er den Horror des Krieges und der Inquisition malte. Und die Stiere Picassos lassen sich kaum anders interpretieren denn als Würdigung des Tiers. Nationales Kulturgut? Bis Franco an die Macht kam, hatte der Stierkampf es auf offizieller Ebene nicht gerade leicht in Spanien. Carlos III. verbot ihn 1771, ebenso Carlos IV. 1805.

Ich glaube, mein Großvater wäre heute untröstlich. Wegen des Stierkampfs, dem man so viel aufbürdet – und wegen Spanien. Wegen so vieler Verdrehungen. Wahrscheinlich würde er eine Erzählung zur Hand nehmen und mir daraus vorlesen, aus „Das Haus des Asterion“ von Jorge Luis Borges. Der Minotaurus (halb Mensch, halb Stier) lebt in einem Labyrinth, wo er sich vor dem Krieger Theseus versteckt. Minotaurus erzählt selbst: „Alle neun Jahre betreten neun Männer das Haus, damit ich sie von allen Übeln befreie. Ich höre ihre Schritte und Stimmen in den steinernen Fluren und renne freudig zu ihnen. Die Zeremonie dauert wenige Minuten. Einer nach dem anderen geht zu Boden, ohne dass ich mir die Hände an ihrem Blut schmutzig mache. Wo sie fallen, bleiben sie liegen und helfen mir, die verschiedenen Flure zu unterscheiden.“

„Der Minotaurus ist Spanien“, würde mein Großvater sagen. Es ist verloren im Labyrinth der Geschichte, es findet den Ausgang nicht. Was ist eine Nation? Wie viele Nationen passen in ein Land?

Während spanische Geschäftsleute eine unblutige Version des Stierkampfs nach Las Vegas exportiert haben und die Stierakrobatik auch in Südfrankreich längst zu den Touristenattraktionen zählt, klammert man sich in Spanien an eine angebliche Tradition, die nichts anderes als Quälerei ist. Als Reaktion auf das katalonische Verbot ist der Prozentsatz der Stierkampffans im übrigen Spanien einer Umfrage zufolge gestiegen. Wird er weiter steigen? Wird Spanien ausgerechnet über den Stierkampf zerbrechen?

Mein Großvater würde weiter Borges lesen: „Die Morgensonne spiegelte sich im Bronzeschwert, auf dem kein Blutstropfen mehr zu sehen war. ,Kannst du das glauben, Ariadne?‘, sagte Theseus. ,Der Minotaurus hat sich kaum gewehrt.‘“

Der Autor lebt als Reporter in Barcelona. Aus dem Spanischen von Philipp Lichterbeck.

Bernardo Gutiérrez

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