zum Hauptinhalt
Ein von der israelischen Luftwaffe angegriffenes Haus in Rafah im Süden des Gazastreifens.

© Reuters

Krieg in Gaza: Der Hass und seine Masken

Tragödie in Gaza, Terror in Israel. Im Nahost-Konflikt machen sich beide Seiten schuldig. Um einen Ausweg aus dem gegenwärtigen Unglück zu finden, muss die Welt helfen. Innenansichten eines Israelis.

Es ist nicht leicht, über die Tragödie zu schreiben, die sich vor unseren Augen in Gaza abspielt. Die Bilder der Toten, der unschuldigen Toten, ersticken die Worte. Israels Feinde sagen: unschuldig Ermordete. Aber das ist nicht wahr. Unschuldige Menschen sterben in Gaza, aber sie werden nicht ermordet. Sie sind Opfer einer Tragödie, die beendet werden muss, und das kann nur geschehen, wenn alle begreifen: Diese Tragödie betrifft nicht nur Israel und die Palästinenser. Nicht nur Juden und Araber. Diese Tragödie betrifft uns alle, sie betrifft die ganze Welt.

Deshalb schreibe ich diese Zeilen, und deshalb schreibe ich sie auf Deutsch. Ich bin unter Hitler zur Welt gekommen, als jüdisches Kind wuchs ich in West-Berlin auf und wanderte vor nun fast 50 Jahren nach Israel aus. 1967, im Sechstagekrieg, empfand ich zum ersten Mal das Gefühl einer tödlichen Bedrohung, und es hat sich seither nicht verändert, nur in einen beklemmenden Dauerzustand verwandelt und schrittweise verschoben. Die früheren Auseinandersetzungen einer „konventionellen“ Kriegsführung sind zu den gegenwärtigen Gefahren eines unberechenbaren, überall spürbaren Terrorismus geworden; und weniger um meine eigene Person bin ich heute besorgt als um meine Kinder und um meine Enkel.

Man neigt dazu, solche Dinge zu verdrängen und aus dem Gedächtnis zu verbannen. Wie es unter Hitler gewesen ist, weiß ich nur aus den Zeugnissen der Geschichte, ich war damals zu klein. Aber an West–Berlin im Jahr 1961 erinnere ich mich noch sehr genau, ich weiß noch, dass die S-Bahn plötzlich nicht mehr in den Osten fahren konnte wie früher. Und dass damals, als die zweite deutsche Diktatur mitten in der Stadt ihre Krallen ausstreckte, eigentlich alles so weitergegangen ist wie zuvor. Dass man wegschaute und gar nicht wissen wollte, was sich in nächster Nähe abspielte.

Ein israelischer Soldat betet an der GRenze zu Gaza am 29. Juli.
Ein israelischer Soldat betet an der GRenze zu Gaza am 29. Juli.

© AFP

Das ist auch bei uns in Israel so. Seit vielen Jahren wird der Süden des Landes vom Gazastreifen aus mit Raketen beschossen, und anderswo – in Jerusalem, wo ich wohne, oder am Küstenstreifen, wo meine Kinder und Enkel zu Hause sind, – merkt man davon wenig. Weitab vom Schuss, heißt es im Deutschen: drei Wörter, die das menschliche Bewusstsein und seine Neigung beschreiben, sich vor der Wirklichkeit abzuschirmen.

Im Süden Israels leben die Menschen seit langem mit den Raketen. Wenn die Sirenen ertönen, haben sie 15 Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen, und hier soll nicht behauptet werden, sie seien die einzigen, die das Unglück dieser Tragödie zu tragen hätten. Nicht um Schwarzweißmalerei geht es mir, auch nicht um eine Apologetik, die Israels Fehler schönzufärben sucht. Für alle, die ihn sehen wollen, liegt auch unser Anteil an der Tragödie im Nahen Osten offen zu Tage. Im Einvernehmen mit allen israelischen Regierungen haben sogenannte Siedler seit 1967 jenseits der Ostgrenze Israels eine Kolonialherrschaft errichtet, die weder politisch noch menschlich zu rechtfertigen ist. Sie muss ein Ende finden, wenn es einmal zum Frieden zwischen den Völkern kommen soll.

Zweimal hat Israel seine Fehler korrigiert. Einmal hat es etwas gebracht, das zweite Mal nicht.

Die Toten von Gaza aber sind nicht die Opfer der israelischen Siedlungspolitik. Denn seit 2005 gibt es keine Siedler mehr im Gazastreifen. Zweimal hat Israel die Fehler seiner Expansionspolitik korrigiert. 1982 zog es seine Siedler aus der Halbinsel Sinai zurück und brachte sie teilweise im Gazastreifen unter, 2005 gab es schließlich auch diese Siedlungen auf. Aber während der Rückzug aus dem Sinai Israel den Friedensvertrag mit Ägypten einbrachte, geschah nach der Aufgabe des Gazastreifens nichts dergleichen. Denn in den Jahren seit Anwar Sadats Besuch in Jerusalem 1977 hatte die islamische Welt sich entscheidend verändert.

Ende der 1970er Jahre, während Israel und Ägypten sich einander annäherten, setzte der Ajatollah Chomeini von Paris aus die Revolution gegen den persischen Schah in Gang, die in Teheran dann zur Gründung der Islamischen Republik führte. Bald darauf brach der Erste Golfkrieg aus, in dem sich zwei islamische Staaten, der Iran und der Irak, über acht Jahre lang bekämpften. Allein auf iranischer Seite forderte der Krieg über 500 000 Opfer, und Chomeini schickte in ihm erstmals die Selbstmörder an die Front, unter ihnen auch Kinder, die seither zum Markenzeichen dieser Art von „Kriegsführung“ geworden sind.

Dies sind die Anfänge unseres gegenwärtigen Unglücks. Sie liegen nun über 30 Jahre zurück und haben Blüten getrieben, die sich unserem kollektiven Gedächtnis, so schwach es oft sein mag, tief eingeprägt haben. Um nur das deutlichste Beispiel zu nehmen: Am Anfang des Jahrtausends stürzten die Zwillingstürme in New York ein, und in unserer Welt der westlichen Demokratien wird es wohl kaum einen Menschen geben, der nicht sagen könnte, wo oder unter welchen Umständen ihn die Bilder vom 11. September überrascht haben.

Das ist der Boden, auf dem die Hamas-Bewegung gewachsen ist. Hier hat die Tragödie, der die Menschen im Gazastreifen jetzt zum Opfer fallen, ihre Wurzeln. Auf den ersten Blick sieht das vielleicht nicht so aus. Auf den ersten Blick scheinen die Toten in Gaza die Opfer eines technisch hochgerüsteten Israels zu sein. So sollen es die von der Hamas bereitgestellten Bilder vermitteln: Israel lässt seine unmenschlichen Horden auf eine hilflose Bevölkerung los, um einen unbändigen Hass auf die unterdrückten Palästinenser zu befriedigen.

Ein Bild von Israel, das den Judenkarikaturen, wie sie einst im „Stürmer“ zu sehen waren, nicht unähnlich ist. Und so – genau so – ist es auch gemeint. Nicht zufällig findet die Hamas-Bewegung ihre Verbündeten in den antisemitischen Demonstranten, die in Europa jetzt an Zeiten erinnern, von denen man hat glauben wollen, dass sie vergangen seien. Deshalb schreibe ich diese Zeilen, und deshalb schreibe ich sie auf Deutsch. Das Bild, das die Hamas-Bewegung von Israel zu suggerieren sucht, ist falsch. Wie die Karikaturen im „Stürmer“ sagt es nichts über die Israelis aus, sondern nur über diejenigen, die dieses Bild entwerfen: über die Hamas-Bewegung selbst.

Die Hamas verhält sich völlig unmenschlich

Sie selbst ist es, die sich einer ihr gnadenlos ausgelieferten Bevölkerung gegenüber völlig unmenschlich verhält. Die diese unglücklichen Menschen dazu zwingt, in einem Kriegsgebiet zu leben, das als harmlose Stadt getarnt ist. Dessen Wohnblöcke und Schulen, Moscheen und Krankenhäuser vor Waffen starren. Dessen Boden von einem Labyrinth mörderischer Tunnelsysteme unterhöhlt ist, die sich gezielt auf die Zivilbevölkerung im israelischen Grenzgebiet richten.

Die grauenhaften Szenen, die die Terroristen des Gazastreifens jetzt in aller Welt zeigen, stellen die Wirklichkeit auf den Kopf. Von den Raketen in ihren Wohnblöcken und Schulen, ihren Krankenhäusern und Moscheen haben sie keine Aufnahmen gemacht. Erst jetzt, während unschuldige Menschen an den Folgen ihres verbrecherischen Vorgehens sterben, laufen die Kameras: In der Maske, die sie den israelischen Soldaten aufsetzt, zeigt die Hamas ihr eigenes Gesicht.

Man nennt sie eine radikalislamistische Bewegung, aber ich weigere mich, den Islam – oder irgendeine andere Religion – für die Verbrechen verantwortlich zu machen, die ihre selbsternannten Repräsentanten begehen. Im Gazastreifen sterben unschuldige Menschen, und das ist fürchterlich. Aber der Gazastreifen ist nicht der einzige Ort, an dem wir Zeugen einer Katastrophe werden. Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich, in Syrien, findet sie seit Jahren statt. In einem unendlich größeren Maßstab.

Deshalb schreibe ich diese Zeilen, und deshalb schreibe ich sie auf Deutsch.

Wir brauchen die Hilfe der Welt.

Um einen Ausweg aus dieser Tragödie zu finden.

Um dort, wo heute der Tod herrscht, wieder Leben aufkommen zu lassen.

Und um einmal, wenn das Unglück eingedämmt ist, auch Israel die Möglichkeit zu geben, seine Fehler zu korrigieren.

Jakob Hessing, 1944 in Lyssowce, Oberschlesien, geboren, lehrt deutsche Literatur an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Jakob Hessing

Zur Startseite