zum Hauptinhalt
292799_0_51192927.jpg

© Kitty Kleist-Heinrich

Künstlergrupppe: Wir bauen die Mauer wieder auf

Write the Wall: Eine Künstlergruppe verwandelt in Moabit die Reste der Grenzanlagen in eine soziale Plastik. Street-Art-Künstler, Schulklassen, Berliner und Touristen – also eigentlich jeder – darf die graue Betonwand gestalten.

Drei Monate, bevor sich der Mauerfall zum zwanzigsten Mal jährt, steht Lutz Henke auf einem Stück Niemandsland zwischen Kies und Gestrüpp und sagt: „Hier haben wir die Mauer wieder aufgebaut!“ Das klingt fast ein bisschen stolz. Denn dem Vorsitzenden des jungen Kreuzberger Vereins Artitude schwebt Großes vor: Ein „Off-Programm jenseits der Gedenkroutine“ soll hier stattfinden. Dazu ließen er und die anderen ehrenamtlichen Helfer des Projekts zwanzig originale Mauersegmente, jedes 2,5 Tonnen schwer, auf das Gelände an der Heidestraße gegenüber des Invalidenfriedhofs in Moabit transportieren.

Unter dem Titel „Write the Wall“ sollen von Montag an Street-Art-Künstler, Schulklassen, Berliner und Touristen – also eigentlich jeder – die graue Betonwand gestalten. Hinzu kommen Performances und Partys in Zusammenarbeit mit dem benachbarten Tape Club. An einem zweiten Standort, dem ehemaligen Senatsreservenspeicher in der Kreuzberger Cuvrystraße, finden Filmabende, Gesprächsrunden und Vorträge statt. Der Speicher ist Teil der deutsch-deutschen Geschichte: Von 1951 an hatte ihn der Senat genutzt, um dort Lebensmittel einzulagern – aus Angst vor einer zweiten Berlin-Blockade. Die breite Öffentlichkeit wusste von der Aktion „Eichhörnchen“ jedoch nichts.

Die von Lutz Henke und seiner Mannschaft aufgestellten Mauerteile in der Heidestraße stehen rund 20 Meter von der historischen Grenzlinie entfernt. Sie stammen aus Liegenschaften eines Immobilienunternehmens. Ob sie Teil der Grenzanlagen waren, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Für Frank Lämmer sind sie vor allem eine Freifläche für seine Kunst. Er ist neben dem in New York lebenden deutschen Pop-Art-Künstler Jim Avignon oder dem Italiener Blu, der schon einige Berliner Brandmauern gestaltet hat, einer der eingeladenen Künstler.

Unter dem Namen „Esher“ stieg Lämmer in den Neunzigern zu einer der Größen in der Berliner Sprayer-Szene auf. Heute arbeitet er im Auftrag von Unternehmen. Über das Motiv, das er beisteuern wird, hat er sich noch keine Gedanken gemacht. „Das überlege ich mir dann, wenn ich davorstehe“, sagt er. Also doch nur ein großer Graffiti-Spaß?

Vor etwa zwanzig Jahren hat Lämmer sein erstes Werk tatsächlich auf ein Stück Mauer gesprayt. „Als ich es meiner Tante zeigen wollte, war es schon wieder weg“, erinnert er sich. Eingerissen. Lämmers Graffiti wurde von der deutsch-deutschen Geschichte überholt. Vielleicht wird auch dieses Mal sein Werk nur von kurzer Dauer sein. Denn das gehört zu dem Mitmachprinzip: Alles darf übermalt werden. Eine fest installierte Kamera wird bis zum 9. November in regelmäßigen Abständen die Veränderungen dokumentieren.

Galerien in Prag, Budapest, Danzig, Wien und Buenos Aires übertragen die Aufnahmen in Echtzeit. Doch das meiste wird sich im Internet abspielen. Dort kann man sich die Fotos downloaden und ausdrucken. Allein das Video des Künstlers Blu, das die Entstehung eines seiner Wandgemälde festhält, sei 300 000 Mal auf Youtube angeklickt worden, sagt Projektleiter Henke. Über „Esher“ Lämmers Internetportal Streetfile.org haben Mitglieder mehr als 142 000 Fotos von Graffiti aus der ganzen Welt ins Netz gestellt. „Unser Aufruf hat sich verselbstständigt“, sagt Henke. Er rechnet mit ein paar hundert Teilnehmern.

„Write the Wall“ ist ein Gedenkprojekt im Zeitalter des Web 2.0 – und zielt eindeutig auf ein junges Publikum. Auf diejenigen, die beim Fall der Mauer zu jung waren, um sich heute noch daran zu erinnern, oder die noch gar nicht geboren waren. Auf die, die damals noch nicht mitgestalten konnten an der „längsten Betonleinwand der Welt“, wie sie einer der bekanntesten Mauerkünstler, der Franzose Thierry Noir, bezeichnet hatte.

Menschen im Alter von Johannes Mundo. Der Historiker begleitet das Artitude-Projekt. 1989 war Mundo sieben Jahre alt. Er lebte damals in der Hauptstadt der DDR und erinnert sich, wie seine Eltern ihn eines Abends ins Wohnzimmer riefen: „Komm Fernsehen gucken, das wirst du nie wieder vergessen.“ Mundo hofft, dass viele Schulklassen den Weg auf das Brachland finden werden. Mit Pinsel und Sprühdose in der Hand würde ihnen der Zugang zur Geschichte vielleicht leichter fallen. Bedarf gibt es. Manchmal sei Mundo schon gefragt worden, warum man denn nicht einfach außen herum gegangen sei, wenn die Mauer die Stadt nur zwischen Ost und West geteilt hätte. Die künstlerische Antwort von „Write the Wall“ sieht so aus: Bis zum 9. November darf nur die Westseite gestaltet werden. Die Ostseite soll grau bleiben.

Das Projekt, gefördert durch Mittel der Europäischen Union und das Programm „Die Gesellschafter“ der Aktion Mensch, ist ein Zwitter aus Pädagogik und Kunst. Das zeigt schon die Wahl des Standorts. Einerseits hat er als ehemaliges Grenzgebiet historische Bedeutung. Andererseits setzt Artitude auf die künstlerisch-inspirierende Wirkung der Nachbarschaft: In Sichtweite befinden sich das Museum für Gegenwart im Hamburger Bahnhof, die Galerien in der Heidestraße und die dort verkehrenden Künstler und Sammler. Touristenbusse werden hier nicht vorbeiziehen. Aber das sei auch so gewollt, sagt Historiker Johannes Mundo.

Jeder, der sich hier an der sogenannten sozialen Plastik beteilige, solle dies bewusst tun. Diese Idee habe gegen Standorte wie den Potsdamer Platz oder die bei Sprayern beliebte ehemalige Hinterlandmauer im Mauerpark gesprochen. Dann kämen zu viele Menschen und würden nur den Schriftzug „Ich war da“ hinterlassen, fürchtet Mundo. Und das wäre keine Kunst. So ein Spruch wäre in diesem Jahr einfach zu wenig.

- „Write the Wall“, Heidestraße 14 (Moabit) und Cuvrystraße 3–4 (Kreuzberg), 10. August bis 9. November. Webcam und Rahmenprogramm: www.writethewall.net

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false