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Klare Hierarchien. Ein weißer Großwildjäger, seine schwarzen Helfer und zwei getötete Zebras.

© mauritius images/Alamy

Kulturgeschichte: Himmelspforte Hyänenbauch

Mensch und Biest: Richard Girling schreibt eine Geschichte der menschlichen Herrschaft über das Tier.

Wer die Herrschaftsgeschichte der Menschen über die Tiere beschreibt, hat von einem Vernichtungsfeldzug zu erzählen, dessen Destruktivität sich zuletzt noch erhöht hat. Seit 1970 ist der Bestand an wild lebenden Tieren – Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien und Amphibien – um zwei Drittel geschrumpft. 90 Prozent der Säugetiere sind heute Nutztiere.

Viele Menschen sind sich einig, dass man sie zumindest „artgerecht“ behandeln sollte. Aber was sind die artgerechten Bedürfnisse einer Milchkuh oder eines Masthähnchens? „Man könnte argumentieren, dass die natürliche Umwelt eines Tiers, das für die Massentierhaltung gezüchtet wurde, der Massentierhaltungsbetrieb ist“, gibt Richard Girling in der „Mensch und das Biest“ zu bedenken.

Der britische Wissenschaftsautor hat ein komplex argumentierendes, perspektivenreiches Buch geschrieben, das – auch wenn es entschieden für die Tiere Partei nimmt – nicht mit einem Pamphlet von Tierschutzaktivisten zu verwechseln ist.

[Richard Girling: Der Mensch und das Biest. Eine Geschichte von Herrschaft und Unterdrückung. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Berlin 2021. 510 Seiten, 26 €.]

Dennoch ist es eine Enzyklopädie animalischer Torturen, etwa wenn es von den Jagdexzessen barocker Fürsten, den Atemproblemen und Hüftbeschwerden überzüchteter Hunde, den Methoden der Schlachtung oder dem Kriegseinsatz von Pferden, Hunden, Brieftauben und Schnecken handelt: Letztere dienten als lebendes Frühwarnsystem bei Gasangriffen.

Unheilvolle Schöpfungsgeschichte

Die grausame Praxis ist das eine, der abwertende Diskurs das andere. Unheilvoll wirkte sich vor allem die Doktrin der biblischen Schöpfungsgeschichte aus, nach der die Tiere von Gott zum Nutzen des Menschen geschaffen seien: „Machet sie euch untertan!“ Die Aufklärung war im Hinblick auf die Tiere allerdings oft nicht besser als die Bibel. Sie wurden noch weiter vom Menschlichen weggerückt: als mechanistische Bio-Apparaturen, die Gefühle so wenig kennen wie eine Rübe.

Während der Philosoph René Descartes der Auffassung war, dass ein Tier nicht mehr Vernunft habe als ein Stein, änderte Jeremy Bentham um 1800 die Blickrichtung: „Die Frage ist ja nicht, ob sie denken können … Die Frage ist: Können Sie leiden?“ Er forderte bereits Rechte für Tiere ein.

Auch John Locke war der Auffassung, dass die Leiden eines verwundeten Tieres nicht geringer seien als die Leiden eines Menschen mit der gleichen Verwundung.

So ist dieses Buch zugleich eine Geschichte wachsender Empathie. Der romantische Lyriker William Blake erweiterte sein Mitgefühl sogar auf die Insekten: „Kleine Fliege, / Deines Sommers Freude / Fegte meine Hand / Achtlos beiseite. / Bin ich denn nicht / eine Fliege gleich dir?“ Arthur Schopenhauer, der Philosoph des Pessimismus, entwickelte einen neuen, spirituellen Blick auf die Tiere. Sie waren ihm Lehrmeister für die Philosophie des Augenblicks: „Sie sind die personifizierte Gegenwart und machen uns gewissermaßen den Wert jeder unbeschwerten Stunde fühlbar.“

Rituale der Männlichkeit

Schön und gut, aber unterdessen führte das 19. Jahrhundert einen Krieg gegen Wale, Elefanten und Büffel, der von Girling in eindringlichen Kapiteln geschildert wird. Die Großwildjagd in Afrika wurde zum Ritual „naturverbundener“ Männlichkeit.

Heute wäre es nur noch schwer vermittelbar, wenn sich Staatschefs wie Boris Johnson oder Olaf Scholz quer durch Afrika schössen, wie es Winston Churchill oder der amerikanische Präsident Theodore „Teddy“ Roosevelt taten, nach dem unberechtigterweise das Kuscheltier benannt ist, weil er bei der Bärenjagd in Mississippi ein einziges Mal auf das Abschießen eines jungen Bären verzichtete (dessen Mutter bereits getötet worden war).

Eine weitere, ebenso spannende wie zwiespältige Gestalt des Buches ist der Tierhändler, Zoogründer, Zirkusdirektor und Völkerschau-Veranstalter Carl Hagenbeck. In Massen verschleppte er Wildtiere aus Afrika nach Europa (allein 1000 Löwen), und viele dieser Expeditionen waren in der Bilanz Massaker, bei denen die meisten Tiere buchstäblich auf der Strecke blieben.

Der Aufwand, um das Jahr 1900 ein Flusspferd nach Europa zu transportieren, war ungeheuer. Immerhin, Hagenbeck entwickelte mehr Einschätzungsvermögen gegenüber den Tieren als manche Philosophen: „Die Tiere sind Wesen wie wir selbst, und ihre Intelligenz ist nur dem Grade und der Stärke nach verschieden.“

Die moderne Biologie hat Hagenbeck bestätigt. Affen und Menschen unterscheiden sich lediglich zu 1,3 Prozent ihrer DNA. Nicht nur der Blutkreislauf, die Atmung und das Skelett, sondern auch der Sinn für Fairness und die Fähigkeit zur Kooperation haben evolutionsbiologische Entwicklungsgeschichten, die lange vor dem Menschen ansetzen. Gedächtnis, Planung, Kommunikation und Mitgefühl gehören ebenso zum tierischen wie zum menschlichen Leben.

Dennoch wurden Abermillionen Tiere als Versuchsobjekte Opfer der Wissenschaft – ein weiteres großes Thema dieses Buches. Oft verschmolz dabei der legitime Erkenntnisdrang mit Sadismus, wie bei dem Pastor und Physiologen Stephen Hales (1677-1761), der als erster den Blutdruck maß. Er liebte es, Tiere bei lebendigem Leib aufzuschneiden: „Wenn sich Hochwürden Hales nicht um die geistlichen Bedürfnisse seiner Schäfchen kümmerte, steckte er bis zu den Ellenbogen in einem Hund oder Pferd“, schrieb ein Zeitgenosse.

Auf der Gegenseite stellt Girling Pioniere des Tierschutzes vor wie Lewis Gompertz (1783-1861), der kein Fleisch aß, auf Schuhe aus Leder und Kleidung aus Wolle verzichtete und sich in kein Fahrzeug setzte, das von einem Pferd gezogen wurde. Stattdessen hat er was für die Fortbewegung ohne Pferdestärke getan: Er erfand den Handkurbelantrieb für Draisinen.

Nun ist die Natur aber auch selbst eine Arena unendlicher Qualen. Hyänen hetzen ein größeres Wild, bis es erschöpft kollabiert, und wühlen ihre bluttriefenden Schnauzen in die aufgerissenen Bäuche, während die Beute noch lange vor Qualen brüllt. Soll der Mensch sich denn besser verhalten als die Hyäne? Liefe das nicht wiederum auf eine humane Sonderstellung hinaus – der Veganer als rücksichtsvolle Krone der Schöpfung? Und ist Mitgefühl mit Tieren womöglich ein Luxus von Leuten, die rundum versorgt sind?

Tierquälerei als Ausdruck wirtschaftlicher Rationalität

Über lange Zeiten der Geschichte konnten sich viele Menschen nicht einmal die Freundlichkeit gegenüber den eigenen Kindern leisten und schickten sie in Kohlegruben und Fabriken. Tierquälerei war oft ein Akt wirtschaftlicher Rationalität: Der prekäre Kutscher peitschte sein teures Pferd, bis er das letzte Quäntchen Arbeitskraft aus ihm herausgepresst hatte. Mitunter machte sich die Liebe gegenüber den Tieren auch verdächtig, weil sie mit Menschenfeindschaft einherging, etwa bei der eigentlich fortschrittlichen Tierschutzgesetzgebung der Nationalsozialisten. Wer wollte die loben?

Vom handelsüblichen Sachbuch-Stil unterscheidet sich Girlings geschliffene formulierte und mit sarkastischen Pointen aufwartende Darstellung durch die formale Ambition. Die ersten 150 Seiten (von der Frühgeschichte bis zur Aufklärung) sind in einer ungewöhnlichen Manier geschrieben – als würde ein namenloses kollektives Wir die damaligen Kenntnisse und Usancen im Umgang mit den Tieren im Ton der Selbstverständlichkeit mitteilen.

In die handfesten Einsichten, die das vertraute Zusammenleben mit den Tieren mit sich brachte, mischt sich viel Aberglaube und Magie, etwa wenn es über die Vögel heißt: „Die Muster ihres Fluges und Gesangs verraten uns vieles von dem, was die Götter mit uns vorhaben.“

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Oder wenn sich die theologisch heikle Frage stellt, wie die Auferstehung eines von wilden Tieren zerrissenen Menschen im Detail vor sich gehe: „Der Bauch einer Hyäne mag eine seltsame Pforte zum Himmel sein, aber sie ist so gut wie jede andere.“

Statt über die vom heutigen Denken weit entfernten Epochen und ihr begrenztes biologisches Wissen von oben herab zu räsonieren, inszeniert Girling hier eine Art Bewusstseinsgeschichte. Am Ende des Buches steht die Einsicht, dass der menschliche Exzeptionalismus des biblischen Schöpfungsmythos nach zweieinhalb Jahrtausenden gründlich widerlegt ist. Für sehr viele Arten kommt sie allerdings zu spät.

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