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Himmelsatlas. Blick in den Mies van der Rohe-Bau.

© SCHROEWIG/Bernd Oertwig

Kunst: Heiter bewölkt

Alle Farben Grau: Gerhard Richters Oeuvre im grandiosen „Panorama“ der Neuen Nationalgalerie. Ein Rundumblick auf das Werk des sowohl bedeutendsten wie auch teuersten deutschen Malers.

Gerhard Richter müsste das freuen. Draußen hat es alle Farben Grau: Granitgrau, Asphaltgrau, Stahlgrau, überzogen von einer Schneedecke Weiß. Dazwischen lugen ein paar Fetzen Buntes hervor, ein Werbeplakat für die Berlinale, ein frecher Schal. Berlin ist Richter-Stadt geworden, plötzlich sieht man sie mit anderen Augen – als abstrakte Komposition. Für die Verkehrung des Blicks sorgt die Neue Nationalgalerie mit ihrer grandiosen Richter-Ausstellung. Sie feiert den großen deutschen Maler mit einer Schau, deren Titel „Panorama“ gleich zu verstehen gibt, dass wir uns in luftigen Höhen befinden.

Dem Künstler wird ein triumphaler Empfang bereitet. Der gläserne Kubus des Mies van der Rohe-Baus zeigt seine Werke wie Edelsteine in einer Schmuckschatulle. Wie Broschen sind die 196 quadratischen Tafeln der modularen Arbeit „4900 Farben“ mit ihren 25 verschiedenfarbigen Emaillequadraten außen auf eine umlaufende Wand gehängt, als Wiederholung des 2500 Quadratmeter großen, quadratischen Grundrisses der Halle im Bildformat. Das Ausstellungshaus schmückt sich vor allem selbst mit dem bedeutendsten lebenden Künstler der Republik. Nicht die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat ihm zum 80. Geburtstag eine Ausstellung geschenkt, sondern umgekehrt der Künstler dem Museum. Das musste auch Generaldirektor Michael Eissenhauer eingestehen, der die gestrige übervolle Pressekonferenz als lässiger Moderator mit den Worten „unglaublich cool, super“ eröffnete.

Auch Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann gab freimütig zu, dass ihm die Worte gefehlt hätten, je mehr Bilder gehängt wurden. Tatsächlich hat man selten das Obergeschoss des van der Rohe-Baus so gelungen für eine Ausstellung hergerichtet gesehen. Raum und Inhalt, Kunst und Architektur ergänzen einander. Richter in dieser Offenheit nach allen Seiten, in dieser multiplen Bezüglichkeit zu sehen, öffnet die Augen nicht nur für sein Werk, sondern für die Malerei schlechthin. Nach der ersten Station in der Londoner Tate Gallery, die sich saalweise einzelnen Themen des Oeuvres widmete, erschließt die jetzige Präsentation das Werk in seiner Gesamtheit: chronologisch in zwei großen Galerien, die bislang separierte Kapitel und Stile auf einer Zeitachse zusammenfügen.

Das erste Bild, der „Tisch“ von 1962, mit dem auch der Catalogue raisonné beginnt, als hätte es den jungen Dresdner Maler nie gegeben, der kurz vor Mauerbau in den Westen ging, führt programmatisch vor, dass der Künstler immer beides zugleich war: gegenständlicher und abstrakter Maler und vor allem ein Liebhaber des Grau, das alle Farben in sich trägt. Den Wohnzimmertisch in Grisaille überdeckt ein grauer Wirbel. Was ist wirklicher, das Abbild oder die Malerei selbst, scheint Richter schon mit diesem ersten Werk zu fragen: Tisch oder Farbe? Vis–à-vis hängt ein Spiegel jüngeren Datums, der diesen Gedanken über die Möglichkeiten des Bildes in anderer Materialität fortführt. Ein fünfzig Jahre währender Reflexionsprozess über Visualität spannt sich zwischen beiden Werken. Die Ausstellung packt den Betrachter nicht nur durch die schiere Zahl, die rund 130 großartigen Bilder, die frühen lakonischen Darstellungen der Konsumwelt, die hinreißenden Familienbildnisse, die elegischen Landschaften, die zugleich nüchternen und verspielten Farbfeldtafeln, die dramatischen abstrakten Kompositionen, sie überzeugt nicht nur durch die kluge Hängung im schönsten Ausstellungshaus der Stadt. Sie beschert das Glück, einen Maler beim Denken begleiten zu können – und eigenen Erkenntnisgewinn.

Mehr Malerei kann es nicht geben

Dieses Erlebnis wiederholt sich in abgewandelter Form auch im „me collection room“ in der Auguststraße, wo der Sammler Thomas Olbricht in seinem Privatmuseum über 150 Editionen des Künstlers präsentiert, die in ihrer Vielseitigkeit und Experimentierfreudigkeit beeindrucken. Es ist die kleine und auch günstigere Variante des malerischen Oeuvres.

Gerhard Richter hat seine Malerei-Forschungen in jegliche Richtung ausprobiert. Aus der DDR brachte der junge Künstler zwar ein tiefes Misstrauen gegenüber Bildern mit, andererseits gab er den Glauben an die Malerei jedoch nicht verloren. Über den Umweg des Informel rettete er sie für sich. K.O. Götz, einer der bedeutendsten Vertreter dieser Richtung im Nachkriegsdeutschland, bei dem Richter zunächst an der Düsseldorfer Akademie studierte, eröffnete ihm diesen Weg, indem er seine Aufmerksamkeit auf den Produktionsprozess selbst lenkte. Das Malen nach Fotovorlagen sollte nicht nur einer höheren Realität Vorschub leisten, sondern das bewusste Denken ausschalten: „Nichts mehr erfinden zu müssen, alles vergessen, was man unter Malerei versteht, Farbe, Komposition, Räumlichkeit,“ das schien Richter erstrebenswert. Ganz mag man ihm dieses intuitive Vorgehen nicht glauben, denn das Ergebnis sind Ausnahmebilder, ja teils Inkunabeln der neuesten Kunstgeschichte. Richter brilliert in allen Gattungen – ob Stillleben (der Totenschädel), Porträtmalerei (das Bildnis seiner Tochter Betty oder seiner lesenden Frau), Landschaften, Stadtveduten, Akt (Ema) oder Historienbild.

Wie eng abstrakte und gegenständliche Malerei bei Richter beieinander liegen, demonstrieren die drei übereinander platzierten Wolken-Bilder von 1970, eigentlich einem Triptychon, das in der Berliner Hängung bis unter die Decke des Mies van der Rohe-Raums reicht. In ihnen verfetzt sich weiße Farbe wattig vor grau-blauem Grund. Es bleiben zwar Wolken und sind doch Abhandlungen auf die Farbe selbst. Dieser Himmel beginnt sich zuzuziehen mit den abstrakten Gemälden der achtziger Jahre, die immer schwerer und dichter werden durch die vielen Farbschichten, andererseits öffnen sich die Bilder einem neuen Firmament. Richter setzt hier riesige Rakel ein, mit denen er schichtweise Farbe über die Leinwand schiebt. Der Zufall, dieses andere Prinzip des Informel offenbart sich damit auch auf der Leinwand.

Es mag eine Koinzidenz der Berliner Ausstellung sein, dass die jüngsten Rakel-Bilder Richters von einer dicken weißen Farbschicht überdeckt sind, mit Schlieren, als wären es Bremsspuren im Schnee, wie draußen vor der Tür. Zugleich geht ein eiskalter Hauch von ihnen aus. Ihre vollendete Schönheit lässt frösteln und zieht doch an. Solche Assoziationen sind ausdrücklich erlaubt. „Fast alle abstrakten Bilder zeigen Szenen, Umgebungen oder Landschaften, die es eben nicht gibt,“ sagt Richter selbst. „aber sie müssen die Qualität haben, als könnte es sie geben.“ Es gibt sie im Kopf des Künstlers und im Vorstellungsvermögen des Betrachters. Mit seinen Spiegeln und gläsernen Scheiben öffnet er die nächste Tür. Mehr Malerei kann es nicht geben.

Neue Nationalgalerie, Potsdamer Str. 50, bis 13. 5.. Katalog 29/39,95 €. me collection room, Auguststr. 68, bis 13. 5.

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