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KUNST Stücke: In der Röhre

Jens Hinrichsen schwankt zwischen künstlerischen Extremen

Pipelines, Versorgungsrohre und Kabelschächte haben etwas Unheimliches. Weshalb? Weil man weder weiß, was wirklich in ihnen steckt, noch ausmachen kann, wohin sie führen, wenn sie in der Wand oder Richtung Unterwelt verschwinden. Wohl auch deshalb gehören verkabelte U-Bahn-Schächte und von Heizungsrohren gesäumte Kellergewölbe zu beliebten Schauplätzen des Filmthrillers. Überschaubar und von eher ironischer Monumentalität sind dagegen die Vierkantrohre von Charlotte Posenenske. Die Skulpturen sind aus Wellpappe oder Stahlblech gefertigt und aus einzelnen Modulen zusammengesetzt. Die äußersten Teile jedes Rohrsystems liegen selten besonders weit auseinander, da bildet das 14-teilige Arrangement der „Vierkantrohre Serie D“ schon eine Ausnahme, wenn es in der Galerie Mehdi Chouakri um eine Raumecke biegt. Die Künstlerin, die 1985 mit nur 55 Jahren starb, gehörte zu den Wiederentdeckungen der diesjährigen Documenta. Ihr Werk ist verwandt mit der Minimal Art, aber im Gegensatz zu Donald Judd oder Dan Flavin arbeitete sich Posenenske an soziologischen Fragen ab. Der Kunstbetrachter wurde erstmals zum Kunstbenutzer, eine revolutionäre Idee in den sechziger Jahren. Wer eine Arbeit kauft, der soll selbst den Schraubenzieher zur Hand nehmen, um den jeweiligen Bausatz zur individuellen Skulptur zusammenzufügen. Posenenskes Künstlerkarriere war kurz: 1968 gab sie die Kunst auf und widmete sich fortan der Soziologie (Invalidenstraße 117, bis 15. Dezember).

Vier Jahre nach Posenenskes Rückzug aus der Kunst baute Marc Camille Chaimowicz in der Londoner Serpentine Gallery seine Rauminstallation „Enough Tyranny“ auf. Die Galerie Giti Nourbakhsch präsentiert eine Neuauflage der Arbeit, die das krasse Gegenteil minimalistischer und konzeptueller Tendenzen darstellt. Chaimowicz kreiert Inseln aus kitschigen Karnevalsmasken, Flitterboas, Konfetti und Luftschlangen, beleuchtet das orgiastische Arrangement mit farbigen Theaterspots und spielt Musik von Bryan Ferry, David Bowie, Gary Glitter und Marc Bolan dazu. Ein Zimmerspringbrunnen lässt Wasser in ein Becken rieseln, in dem Goldfische schwimmen. Chaimowicz’ Hommage an den Glam Rock der frühen Siebziger, inklusive obligater Discokugel (die man in der Installationskunst allmählich nicht mehr sehen mag) wirkt wie ein Relikt aus fernen Tagen – im Gegensatz zu Posenenskes hochaktuellen Modulsystemen. Trotzdem kommt der Arbeit kunsthistorische Bedeutung zu: Das Londoner Environment war Wegbereiter für ausgreifende, „maximalistische“ Installationen, wie sie später dann Künstler von Jason Rhoades bis Jonathan Meese realisierten (Kurfürstenstraße 12, bis 15. Dezember).

Jens Hinrichsen

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