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KUNST Stücke: Sammelwut

Daniel Völzke schlägt sich durch ein Chaos aus Farbe und Schrott

Als müsse der Besucher auf seinem Weg zum Zuviel erst einmal abgekühlt werden: Durch einen gleißenden Eistunnel geht es, an den weiß gekachelten Wänden klirren Frostkristalle, es ist eng. Und dann steht der Gast, der sich kurz wie ein Schnitzel im Kühlschrank fühlte, in einer dunklen Räuberhöhle. Ihm wachsen Schrottstalaktiten entgegen: Schreibmaschinen, Koffer, Möbel, Volksempfänger hängen an der Decke, an den Wänden. Verwahrloste Plüschtiere schauen aus diesem Dickicht mit leeren Knopfaugen. Die Mitglieder des Künstlerkollektivs Artists Anonymous (AA), die diesen schönen psychedelischen Overkill zu verantworten haben, lernten sich angeblich bei der Suchtselbsthilfe kennen. Der erlebnisreiche Parcours durch ihren Berliner Projektraum, den sie fortan neben ihrem Londoner Showroom betreiben, erinnert an schlechte Trips. Und doch verbreitet diese Mördergrube eine gemütliche Stimmung (bis 15.12., Heidestraße 50). Selbst einen Saunaraum mit weißem Flokati-Allover gibt es hier. So still, so warm, so schön weit ab vom Schuss muss es sich anfühlen, wenn einen der vollends ausgewachsene Eisbär Knut verschlungen hat. Im ersten Stock der ehemaligen Autowerkstatt haben die anonymen Künstler ein Wohnzimmer eingerichtet, an dessen Wänden Zeichnungen, Leuchtkästen und Acrylbilder befreundeter Künstler hängen. Über einem Kanapee grüßt – grusel, grusel – ein Totenkopf-Hitler von einem Aquarell des sogenannten Schockrockers Marilyn Manson, der neuerdings als Maler reüssiert. Schnell wieder runter, in den Kühlraum oder in die Sauna.

Möglich, dass Fantasy-Fans Abkühlung finden in elfenbewohnten, vorindustriellen Wunschwelten – Zuflucht vor einer als zudringlich empfundenen, unaufgeräumten Gegenwart. Der Haken: Das Jetzt macht immer weiter. Wie sang einst die Hamburger Band Blumfeld: „Die Geschichte ist alt und wird älter / auf Tanzflächen, Tresen, Vinyl und Papier / Zelluloid und bei Dir“. Kerstin Drechsel hat den Widerspruch zwischen der Realitätsflucht und der dabei anfallenden, unaufhaltsamen Geschichtsproduktion festgehalten. Sie war zu Besuch bei einem Fantasy-Freak und hat dessen chaotisches Zimmer künstlerisch inventarisiert. „Mittelerde“ nennt sie die Bilder, die sie in der frisch eröffneten Galerie September ausstellt (bis 24.11., Charlottenstraße 1). Kerstin Drechsel, die bereits in früheren Arbeiten im Unaufgeräumten ihre Motive fand, nähert sich dem Zimmer und dem abwesenden Bewohner in immer neuen Anläufen und in unterschiedlicher Intensität und Genauigkeit. Und häuft so selbst Material an. Den vom Bewohner gestapelten Dingen – Totenköpfe, Filmposter, John-Sinclair-Bücher und Videokassetten – setzt die Künstlerin eigene Schichtungen entgegen. So verhängt sie den immer wieder gleichen Blick aufs Interieur mit unterschiedlichen Farbschleiern. Als wolle auch sie die Wirklichkeit fantasymäßig und ironisch überhöhen, als wären die Gegenstände Artefakte einer fernen Welt. Hier gefundene Klumpen vom Bleigießen des letzten Silvesters verwandelt Drechsel in riesige, weiße Acrystal-Abgüsse, die nun wie Eisbrocken auf dem Boden der Galerie liegen. Die Wohnung ist doch nicht nur Erinnerungscontainer, sondern trägt Zukunft in sich. Wenn auch versteckt in kryptischen Formen.

Daniel Völzke

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