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Kunst: Willkommen in Kreuzkassel

Jeden Freitag Vernissage: Das Kunstkollektiv „Kreuzberg Pavillon“ unterhält eine Filiale auf der Documenta – mit Gästezimmer.

Der Abend beginnt mit Beuys. Max Konek und Jonathan Jung, zwei Kunststudenten aus Bremen, haben sich einen Holzschlitten besorgt, Filzstoff, rote Farbe, Fett, was der Beuys-Jünger so braucht. Im Flur eines zur Galerie umfunktionierten Ladengeschäfts malen die beiden sich rote Kreuze auf die T-Shirts, kneten das Fett. „Das war kein Theater. Oder wie habt ihr das empfunden?“, fragt Max. Im Zuschauerraum sitzen vielleicht 30 junge Leute. „Langweilig!“ hat einer während der Performance gerufen und ist hinausgerannt. Jemand will wissen, wie das für die Künstler war.

Gastgeber Heiko Pfreundt mag es, wenn er den Verlauf solcher Abende nicht vorhersehen kann. Er und seine Kollegin Lisa Schorn haben die Beuys-Performer und weitere Künstler in den „Kreuzberg Pavillon“ eingeladen. Der ebendort beheimatete Ausstellungsraum operiert während der 100 Documenta-Tage in der Frankfurter Straße in Kassels Südstadt. Berlin hat erst einmal Pause.

„Der natürliche Reflex eines Berliner Künstlers ist, das alles blöd zu finden“, sagt Heiko Pfreundt. Er meint die Großveranstaltung Documenta – also die Besuchermassen, die in durchsichtigen Documenta-Regencapes durch die Stadt eiern. Die Occupy-Aktivisten vor dem Fridericianum. Feldherrenmäßige Kuratoren. Und Kassel sowieso, diese Rüstungshochburg, mit seiner frustrierenden Nachkriegs-Funktionsarchitektur. Aber anstatt sich abzugrenzen und in Berlin die eigene Emanzipation, Selbstorganisation und Coolness zu feiern, übt Heiko Pfreundt sich in Durchlässigkeit. Die Losungen, die Documenta-Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev ausgerufen hat – „Bühne“, „Belagerung“, „Hoffnung“, „Rückzug“ –, will er im Pavillon sozusagen kreuzbergisieren.

In dem leer stehenden Laden, den er während der 100 Documenta-Tage angemietet hat, gibt es in Berliner Manier kein Schild über der Tür, dafür Sternburg-Pils am Tresen. Jeden Freitag eröffnet eine neue Ausstellung, startet eine neue Aktion. In der Frankfurter Straße, die tatsächlich ein bisschen aussieht wie eine der Verkehrsschneisen in Wedding oder Neukölln, haben sich in letzter Zeit einige Galerien und Off-Spaces angesiedelt. Ein Dozent von der Kasseler Kunsthochschule hat eine In-Kneipe eröffnet. Und während Carolyn Christov-Bakargiev die Stadt Kassel (ebenso wie Kabul, Alexandria und das kanadische Banff) mit Kunstwerken belagert, lässt Pfreundt für ein paar Euro Documenta-Gäste übernachten. Im hinteren Raum des Ladens ist Platz für bis zu 20 Schlafgäste – Interessierte können per E-Mail einen Schlafplatz buchen.

2011, als in Venedig die Kunst-Biennale eröffnete, startet Pfreundt in Berlin mit seinem „Kreuzberg Pavillon“. „Meine Idee war, dass alle Nationen sich in Kreuzberg treffen, anstatt sich in Venedig Länderpavillons anzusehen“, sagt er. Der Pavillon war zunächst einfach Pfreundts Atelier, anschließend residierte er im alten Postamt Skalitzer Straße, wieder später in Neukölln. Migration gehört eben dazu.

Heerscharen von Künstlern, bekannte wie unbekannte, haben im Pavillon ausgestellt. Wer eine Idee hat, kann seine Sachen zeigen. Die Künstler kuratieren sich selbst. Pfreundt nennt das „Kunstinstitution mit möglichst wenig Ausschlussproduktion“. Für ihn gibt es keine schlechte Kunst – „nur schlechte Präsentation“.

Da kommt der Kunstpädagoge durch. Pfreundt, der selbst als Künstler arbeitet, studierte Kunstpädagogik und Visuelle Kommunikation, er arbeitete als Kulturmanager beim Berliner Projektraum Jet, beim Residency-Programm Glogau-Air und im Haus am Waldsee. „Die eigene Urteilskraft reicht nicht aus, um jedes Werk einschätzen zu können. Man muss die Sachen hängen, zusammen mit anderen Kunstwerken. Dann sind auch die schrecklichen Sachen manchmal gut.“

Die Gruppenausstellung, die am Beuys-Abend in Kassel läuft, heißt „Kreuzkassel“. Pfreundt verteilt Zettel, auf denen die Künstlernamen und -positionen verzeichnet sind. „Das sind die Setzungen des Abends!“, ruft er. Die drei Absolventen der Kasseler Kunsthochschule wollten sich bei der Hängung ihrer Bilder nicht reinreden lassen. Weil diese deshalb etwas konservativ geraten ist, hat Pfreundt eine Gruppe Bremer Jungkünstler aufgefordert, im Matratzenlager, wo sie auch übernachten, eigene Setzungen vorzunehmen. An der Wand hängt eine am Hintern starr ausgebeulte Hose, es gibt Zeichnungen und Skulpturen neben zerwühlten Schlafsäcken.

Es ist diese Mischung aus Ordnung und Chaos, Kontrolle und Kontrollverlust, die den „Kreuzberg Pavillon“ ausmacht. Bis die Documenta am 16. September zu Ende geht, erwartet Pfreundt noch spannende Gäste in Kassel. Die von Investoren vertriebene Crew des Berliner Kunsthauses Tacheles in der Oranienburger Straße kommt mit ihrer Verteidigungsstrategie „Human Fence“. Der für seine sozialen Interventionen bekannte Künstler Ulf Aminde und Felix Ensslin, Kurator der Berliner RAF-Ausstellung und derzeit Philosophie-Professor in Stuttgart, initiieren einen „Chor der Arbeit“. Und die Berliner Künstlerin Heike Kelter attackiert mit ihrer Ausstellung „Painting was a Lady“, in der unter anderem Bilder von Elke Krystufek gezeigt werden, die Männerdomäne Malerei. Die Bühne gehört denen, die mitgestalten wolle – oder einfach inmitten der Kunst schlafen. Das hätte Beuys sicher gefallen.

Kreuzberg Pavillon Kassel, Frankfurter Straße 60, 34121 Kassel. Nächste Termine: 27. Juli, „Human Fence“, initiiert vom Tacheles; 3. August, „Chor der Arbeit“, von Ulf Aminde und Felix Ensslin. Mehr unter www.kreuzbergpavillon.de. Übernachtungsbuchung: info@kreuzbergpavillon.de

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