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Jeff Wall

© Deutsche Guggenheim

Kunst: Wir müssen leider draußen bleiben

Das prekäre Bild: Warum sich die zeitgenössische Kunst der sozialen Realität verweigert, vor allem in Deutschland.

Die Galerie Deutsche Guggenheim in Berlin zeigt gegenwärtig Werke des kanadischen Fotografen Jeff Wall. Darunter befinden sich vier Schwarz-Weiß-Abzüge, die einen Einblick in prekäre Lebenswelten gewähren. In „Men waiting“ stehen zwanzig Männer an einem Straßenrand unter grauem Himmel in Erwartung eines kurzfristigen Jobangebots. Auf dem Foto mit dem Titel „Wargames“ sind Kinder zu sehen, die Krieg spielen. Jeff Wall zeigt diese Sujets nicht als die bei ihm üblichen Transparencies, großformatige Dias in Leuchtkästen, sondern als Silbergelatinabzüge, die den dokumentarischen Charakter der Bilder verstärken. Dennoch sind diese Fotos bis ins Detail inszeniert und gleichen eher einem Filmsetting als einem Dokument.

So widersprüchlich es erscheint – sowohl hinsichtlich der Technik als auch des Auftraggebers, der Deutschen Bank: Wall hat prekäre Bildnisse geschaffen. Der Begriff Prekariat entstammt einer postindustriellen Soziologie und bezeichnet das ehemalige Proletariat unter den Bedingungen einer Ökonomie des 21. Jahrhunderts. Es ist gekennzeichnet durch flexibilisierte Arbeitsverhältnisse, Niedrigsteinkommen und Arbeitslosigkeit. Dieses Prekariat gibt es überall. Vancouver, der Entstehungsort der Wall-Fotografien, ist nicht Berlin, und dennoch sind Vergleiche möglich. Jeff Wall bildet spezifische Lebensverhältnisse ganz konkret ab und wahrt dabei doch die Würde der abgebildeten Personen, ohne sie vorzuführen, wie es häufig genug im Fernsehen geschieht. Das mag an der „Konstruktion“ der Arbeiten liegen: Eine Distanz entsteht, die das fiktive Moment zugunsten des Dokumentarischen in den Hintergrund treten lässt. Auch der italienische Neorealismus, der für Wall ein wichtiger Bezugspunkt ist, arbeitet mit dieser Methode. Der Betrachter gelangt scheinbar nur über die Fiktion zu einer Realität.

Obwohl es das Prekariat in Deutschland ebenso gibt wie in Kanada oder den USA, sucht man in der hiesigen zeitgenössischen Kunst Werke mit vergleichbarem Inhalt seltsamerweise vergeblich. Seit der im Dezember 2006 veröffentlichten Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ der Friedrich-Ebert-Stiftung gibt es konkrete Zahlen: Acht Prozent der Gesamtbevölkerung, das sind 6,5 Millionen Deutsche, werden zum „abgehängten Prekariat“ gerechnet. Diese Studie wird ergänzt durch eine Untersuchung des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung über die Vermögensverteilung in Deutschland: Das reichste Zehntel der Bevölkerung besitzt fast zwei Drittel des Gesamtvermögens; dagegen verfügen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung nur über einen Anteil am Gesamtvermögen von weniger als zehn Prozent.

Derartige Zahlen lassen sich im Medium der Kunst zwar nicht abbilden. Aber sie verdeutlichen gesellschaftliche Entwicklungen, die ein Künstler wie Jeff Wall beispielhaft darstellt. Wo aber ist der Künstler hierzulande, der in ähnlicher Weise eine kritische Beschreibung der ihn umgebenden Wirklichkeiten vornimmt? Die zeitgenössische Malerei scheint an sozialen Themen nicht interessiert, wie das Beispiel Norbert Bisky zeigt, dessen Bilder von Jungmännern bevölkert sind. Seine derzeitige Ausstellung im Berliner Haus am Waldsee beschäftigt sich vor allem mit den eigenen Obsessionen, ohne Blick für gesellschaftliche Befindlichkeiten. Insgesamt befasst sich die neue Malergeneration eher mit malerischer Delikatesse als mit sozialen Debatten. Selbst Neo Rauch, in dessen Bildern „Werktätige“ zu sehen sind, belässt es bei einer surrealen Reminiszenz an den Arbeiter- und Bauernstaat von einst. Bilder aus der heutigen Arbeitswelt oder von Migranten in Deutschland? Fehlanzeige.

Soll es Olaf Metzel also allein überlassen sein, das neue Proletariat polemisch zu thematisieren oder aktuelle gesellschaftliche Diskussionen aufzugreifen? Auf dem Plakat zu Metzels Ausstellung „Turkish Delight“ im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum ist eine nackte Kopftuchträgerin zu sehen. Oder brauchen Künstler einfach Zeit? Schließlich hat auch Gerhard Richter zwölf Jahre benötigt, um das Trauma RAF ins Bild zu bringen. 1995 wurde sein Stammheim-Zyklus an das Museum of Modern Art in New York verkauft: Vielleicht will sich Deutschland mit derartigen Themen lieber nicht unmittelbar konfrontiert sehen. Gegenbeispiele finden sich in der Kunstgeschichte, bei George Grosz, Otto Dix, Zilles „Miljöh“ oder den Fotografien eines August Sander. Die Weltwirtschaftskrise bescherte den Malern der Neuen Sachlichkeit zahlreiche Motive in den trostlosen Straßen der Großstadt.

Es mag seltsam klingen: Vielleicht hängt das Ignorieren heutiger gesellschaftlicher Wirklichkeit mit dem Erfolg zeitgenössischer Kunst zusammen. Diese erlegt sich zwar kein Bilderverbot auf, aber womöglich ein Sujetverbot. Das verbotene Sujet ist das prekäre Bild, das die Opfer zeigt, die Ausgeschlossenen, die Prekarisierten. Und zu diesen gehören auch die Künstler selbst, von denen viele ihre Existenz als Hartz-IV-Empfänger nur ungern thematisieren. Die Malerstars im Scheinwerferlicht bilden die Ausnahme und haben mit dieser Lebenswirklichkeit ihrer Kollegen wenig zu tun.

Und weil auch Sammler, Galeristen und Kritiker sich damit lieber nicht auseinandersetzen wollen, wird die Ignoranz noch verstärkt. Wie viel Realitätsbezug braucht die Kunst? Die Zweidrittelgesellschaft will das Drittel der Prekarisierten nicht wahrnehmen, schon gar nicht in der Kunst. Aber wenn sie mehr sein will als reine Dekoration, spiegelt sich in ihr immer der Bodensatz der Wirklichkeit. Solange die Hausse auf dem Kunstmarkt anhält, wird man vergeblich nach einer Darstellung des Prekariats suchen. Vor den Fotoarbeiten von Jeff Wall lässt sich der Champagner zumindest nur unter Vorbehalt genießen.

Thomas Wulffen

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