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KURZ & KRITISCH: Weitere Filme auf der Berlinale

Autoren bewerten Filme der Sektion "Panorama" und "Forum". Mit dabei: "Le Ring", "Hu-thieh", "Loos Ornamental".

PANORAMA

Gewalt als Familientherapie:

„Le Ring“ aus Kanada

Immer am Wochenende gibt es Spektakel in der Kirche von Hochelaga-Maisonneuve in Montreal. Die Götter, denen hier gehuldigt wird, heißen „Tankster“ oder „Satan“, und die Wrestling-Kämpfe im Kirchenkeller sind der wichtigste Zeitvertreib eines Viertels, in dem die Ärmsten der Armen wohnen. Auch der zwölfjährige Jessy (Maxime Desjardins-Tremblay) lebt hier. Er, der selbst einmal Wrestler werden will, hat es nicht gut getroffen mit seiner Familie: der Vater ist Alkoholiker (Stéphane Demers), die Mutter Prostituierte (Suzanne Lemoine), der Bruder (Maxime Dumontier) Drogenhändler, Schwester Kelly (Julianne Côté) kämpft mit der Pubertät. Als die Mutter verschwindet, droht das Familiengefüge auseinanderzubrechen. „Le Ring“ ist der erste Spielfilm von Anais Barbeau-Lavalette, einer jungen Kanadierin, die sich bislang in Dokumentarfilmen mit dem Leben in Armutsvierteln befasste: Sie drehte in Indien, Tansania, Soweto und Palästina – und stellte dann fest, dass die „Favelisierung“ der Städte längst auch in einem Land wie Kanada voranschreitet. Bei einer Dokumentation in Montreals Armenviertel fiel ihr im Publikum eines Wrestling-Turniers ein besonders engagierter Junge auf. Maxime Desjardins-Tremblay wurde der Hauptdarsteller ihres Spielfilm-Debüts: Immer wieder zeigt Barbeau-Lavalette nur das Gesicht und die Augen dieses außergewöhnlichen Darstellers in Großaufnahme – ein Gesicht, in dem viel zu lesen ist, ohne dass sich darin auch nur eine Miene verzieht. Es ist vor allem dieser Verzicht auf tragische oder heroische Zuspitzung, mit der die Regisseurin ihrer Figur eine Würde gibt, die in vielen Sozialdramen fehlt, weil darin Menschen am Rande der Gesellschaft oft nur als Opfer zur Schau gestellt werden. Anais Barbeau-Lavalette hat einen Film gemacht, der nichts beschönigt – und dabei dennoch einen menschenfreundlichen Ton gefunden. Sehr sehenswert. Sebastian Handke

Heute 22.30 Uhr (Cinemaxx 7), 15. 2., 20.15 Uhr (Cinestar 3), 16. 2., 17 Uhr (Cubix 9)

PANORAMA

Mord als Nationalmythos:

„Hu-tieh“ aus Taiwan

Bekannte Erzählmuster einer klassischen Konstellation: Ein Mann kehrt zurück in die Heimat. Stillstand in der Gegenwart, bis die Vergangenheit aufgerollt wird. Phasen ruhiger Reflexion, bis Gewalt ausbricht. Erst bestimmt eine langsame Familiengeschichte à la Hou Hsiao-hsien, dann eine Rachegeschichte à la Johnnie To das Gesetz des Handelns. Stil- und Rhythmuswechsel mit wilden Umbrüchen – in der asiatischen Variante. Sie lenkt den Blick auf die zweite Ebene des Films. Die Familienwirren spiegeln Taiwan als zerrissenes Land. Jeder sieht sich als Hüter der wahren nationalen Identität, noch immer stehen japanische, chinesische, taiwanesische Einflüsse unversöhnt nebeneinander. Der Vater hat sich nach Japan abgesetzt, ins Land der Geschäftemacher und Yakuza-Gangs. Der jüngere Sohn hat einen Mann getötet; für ihn geht sein Bruder Che ins Gefängnis. Alle kommen wieder auf Nanfangao zusammen, einer kleinen Insel vor Taiwan, dort, wo einst die japanische Besatzung ihren Anfang nahm. Che besucht das Grab seiner Mutter, die zu einem Stamm der Ureinwohner gehörte. In traumartigen Bildern steigen die Erinnerungen an alte Rituale wieder auf, die ihn auf seinem weiteren Wege begleiten. Wie eine Marionette folgt Che seinem Racheauftrag: Der Vatermord wird zur Metapher für die Befreiung vom japanischen Joch. Die quälenden Todesszenen des Films werden überhöht durch Schmetterlinge, Symbol der Freiheit, für das, was sich erst durch seine Raupenexistenz zur wahren Gestalt entwickeln muss. Auch der Originaltitel „Hu-tieh“ bedeutet „Schmetterling“.Helmut Merker

15.2., 21.30 Uhr (Zoo-Palast), 16.2., 17 Uhr (Cinemaxx 7), 17.2., 17 Uhr (International)

FORUM

Architektur als Sehnsuchtsobjekt:

Heinz Emigholz’ „Loos Ornamental“

In bewährt virtuoser Manier setzt Heinz Emigholz seine Filmreihe „Photographie und Jenseits“ mit einer Bestandsaufnahme der Arbeiten des österreichischen Architekten Adolf Loos (1870-1933) fort. Als filmisches Format wählt er dabei eine Serie starrer, unkommentierter Einstellungen von Außenansichten und Interieurs der heute noch existierenden Loos-Gebäude. Besonders die dekorativen Details haben es Emigholz dabei angetan: Deckentäfelung und Buntglaselemente in der 1908 gebauten Kärntner Bar oder die Maserung der dicken Marmorsäulen und -verschalungen des Hauses am Michaelerplatz in Wien, die beide Elemente des Jugendstils aufweisen. In Detailaufnahmen der prächtigen Interieurs aus Messing und hochwertigem Holz etwa des Schneidersalons Knize oder der Raiffeisenkasse in Wien, die seit ihrer Fertigstellung um 1910 kaum verändert wurden, zeigt Emigholz, welch luxuriöses Vergnügen der Erwerb eines maßgeschneiderten Anzugs oder die Eröffnung eines Kontos einst gewesen sein mögen – und womöglich dort immer noch sind. Nüchtern und doch unselig modern muten die weißen Kuben des Hauses Moll in Wien oder der Villa Müller in Prag an, die mit ihren typischen Sprossenfenstern ganz eindeutig dem Bauhaus verpflichtet sind. Daniela Sannwald

Heute 20.15 Uhr (Arsenal), 15. 2., 15 Uhr (Cinestar), 17. 2., 16.30 Uhr (Delphi)

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