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Feiert am 10. Juli seinen 85. Geburtstag. Büchner-Preisträger Jürgen Becker in seinem Odenthaler Garten.

© Marius Becker/pa/dpa

Langgedicht von Jürgen Becker: Reisen mit wenig Gepäck

Diskrete Abschiedsstimmung: Jürgen Beckers Journalgedicht „Graugänse über Toronto“ zwischen Wahrnehmungen des Tages und Erinnerungen an alte Zeiten.

Das menschliche Gedächtnis steht nicht mehr sehr hoch im Kurs. Datenbanken aller Art arbeiten daran, es verzichtbar zu machen; in jeder Sekunde halten Abertausende von Fotos Augenblicke fest, die auf diese Weise gar nicht erst erlebt werden können, und Gespräche, in denen man gemeinsam die Erinnerung bemüht, um einen bestimmten Namen oder Sachverhalt heraufzuholen, lassen sich mit manchen Zeitgenossen gar nicht mehr führen, weil immer jemand da ist, der das Smartphone zückt.

Demgegenüber muss man die Methode des Schriftstellers Jürgen Becker, sich schreibend des eigenen Lebens und der miterlebten Zeitgeschichte zu vergewissern, beinahe schon archaisch nennen. Ein langsames Tasten an den Rändern des Bewusstseins, mit dem Bleistift in der Hand, bis ein Bild auftaucht, das einen neuen Vorgang auslöst: „Die Fortsetzung des Selbstgesprächs, / das Kontakt mit den Augenblicken hält, die unaufhaltbar / vergehen. Der Blick zurück geht oft nach dort, wo /das Gelände noch nicht leergeräumt ist. Pappelreihen, / Hochspannungsmasten; die Erzählung geht durch die Ebene, / die wir erreicht hatten mit einem Handwagen, wenig Gepäck.“

Vertraute Räume werden angetippt

So wird, auf den ersten Seiten des neuen Langgedichts „Graugänse über Toronto“ der Bogen zurückgespannt, von der knapp skizzierten Betrachtung einer vermeintlich zeitlosen Landschaft im Flachland zu den Eindrücken einer Flucht, die sofort an das letzte Kriegsende denken lässt. Wobei die Chiffren des historischen Geschehens ihre Lesbarkeit ändern: Was für die wenigen Zeitzeugen noch eigene Erinnerung und für die ersten ein, zwei Nachkriegsgenerationen oft gehörte Erzählung ist, mag den Jüngeren von den History-Kanälen, der Post-TV-Generation indes schon gar nicht mehr bekannt sein – oder aber, es kehrt als frische Nachricht unserer Tage verwandelt wieder. So sind die Flüchtlingsströme des Herbstes 2015 auch in dieses jüngste Buch von Becker eingegangen. Aus der beiläufigen Registratur zeitgleicher Vorgänge wird dabei unversehens ein ironisches Sittenbild deutscher Zustände: „Das Land reaktiviert Pensionäre; die Ämter keuchen unter den Asylanträgen, und das ist erst der Anfang – / der Nachbar / zieht einen Zaun um Sandkasten und Sitzgelegenheit, damit / der Dackel nicht rausläuft.“

Fließend gehen die Wahrnehmungen des Tages in die Erinnerung an weit zurückliegende Zeiten über, ihre Namen, ihre Dinge, „Türklinke und Eisenpfanne“, „Schicksal mit Bahnsteigkarte“, „Roth-Händle in Sechser-Packung“ tauchen auf und verschwinden wieder. Die vertrauten Räume aus den zahlreichen Büchern des Autors werden angetippt, der Schnee auf dem Land im Bergischen, die Kindheit in Thüringen während des Krieges, der einstige Arbeitsplatz in Köln beim Funk, die oft besuchte Metropole Berlin, die Sommerfrische in Griechenland. Aber die Schleifen werden kürzer, die Schnitte schneller, und immer wieder finden sich Reihen von lauter unverbundenen Sätzen – „Journalsätze“, wie der Autor in einem seiner Bücher, „Im Radio das Meer“, die Technik dieses punktuellen Zündens der Erinnerung im Satz einmal auf die Spitze getrieben hat.

Jeder Satz könnte der letzte sein

Überhaupt scheint die das jeweilige Genre modifizierende Bezeichnung „Journal“ ein Fetisch Beckers geworden zu sein. Zwei seiner längeren Prosabücher, darunter den zuletzt erschienenen „Jetzt die Gegend damals“, etikettierte er als „Journalromane“, einen früheren Gedichtband nannte er „Journal der Wiederholungen“; nun also das „Journalgedicht“. Was aber halten diese Journale fest? Zwischen Tagebuch und Journalismus ein Drittes – das offene Schreiben aus dem Tag heraus, wobei die Wahrnehmung isolierter Augenblicke zum Knoten im Netz weit gespannter Assoziationen und Reminiszenzen wird: „Nie waren die Pflaumen so süß wie im Sommer der Invasion.“ Das Schreiben und das Leben könnten immer so weitergehen, aber jeder Satz trägt auch ein Wissen darum, dass er der letzte sein könnte; zumindest der letzte, der einen bestimmten Sachverhalt festhält, der dann vielleicht für immer durch die Maschen fällt, weil niemand mehr da ist, der ihn erinnert.

Auch dieser diskreten Abschiedsstimmung wegen gerät man beim Lesen in einen Sog, wie ihn für andere Leser vielleicht Kriminalromane erzeugen. Ohne Kapitel und andere Untergliederungen schreibt sich dieses erinnernde Erzählen weiter, das die Bedingungen seiner Entstehung, in bester Moderne-Tradition, ständig mitreflektiert – getreu der Einsicht des Büchner-Preisträgers, dass die menschliche Erinnerung nicht aufgefunden wird in einer fixen Datenbank, sondern im lebendigen Prozess der Vergegenwärtigung immer erst gemacht und im Schreiben in etwas wiederum Drittes verwandelt wird, den literarischen Text.

Jürgen Becker: Graugänse über Toronto. Journalgedicht. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 92 Seiten, 20 €.

Norbert Hummelt

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