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Kultur: Langsame Lösungen

Diedrich Diederichsen über das Phänomen musizierender Horden Zu jedem Format des Zusammenspiels gehört eine Lebensform. Von der bürgerlichen Familie, die sich zum Streichquartett organisierte, um Harmonie und Hierarchie in Gleichklang zu bringen bis zur Staatsphilosophie des Lully’schen Symphonieorchesters; von mittelständischen Big Band-Unternehmen bis zur Jazz-Combo, dem Team hochspezialisierter Facharbeiter, die bei ihren Soli nur noch an einem sehr langen Band lockerer Vorgaben miteinander verbunden sind.

Diedrich Diederichsen über das Phänomen musizierender Horden

Zu jedem Format des Zusammenspiels gehört eine Lebensform. Von der bürgerlichen Familie, die sich zum Streichquartett organisierte, um Harmonie und Hierarchie in Gleichklang zu bringen bis zur Staatsphilosophie des Lully’schen Symphonieorchesters; von mittelständischen Big Band-Unternehmen bis zur Jazz-Combo, dem Team hochspezialisierter Facharbeiter, die bei ihren Soli nur noch an einem sehr langen Band lockerer Vorgaben miteinander verbunden sind. In den A-Cappella-Ensembles des Doo-Wop und der Beat-Band der 60er spiegelte sich das Verabredungsverhalten von Jugendlichen. Und die Kollektivimprovisation des freien Jazz hatte den Anspruch, ästhetisch gesellschaftliche Befreiung zu antizipieren. Keine dieser Organisationsformen von Musik ist wirklich verschwunden, nur eine, die lange weg war, kehrt zurzeit mit Macht zurück: die Horde, der Stamm, die musizierende Sekte oder Großfamilie.

Der Vorläufer der Horde ist in den Kollektiven darstellender Künstler zu sehen - man denke etwa ans Living Theatre oder die Otto-Mühl-Kommune. Wesentliches Kriterium der musikalischen Horde ist, dass die Akteure auch außerhalb ihres musizierenden und darstellenden Lebens zusammenleben, oft mit politischen Ansprüchen, so dass den Auftritten ein anderer Status als bei normalen Profis zukommt: er ist keine Exekution eines Expertentums, sondern Extension des Alltagslebens.

Die Hochzeit des Hordentums waren die 60er und 70er. Es gab prinzipiell zwei Typen: wuchernde Hippie-Kollektive wie die The Grateful Dead, in Deutschland ansatzweise Amon Düül oder zwischen Frankreich und England das Kollektiv Gong. Bei diesen Horden waren nicht unbedingt alle Beteiligten Musiker, sondern auch befreundete Schriftsteller, Techniker, Comic-Zeichner und Drogenhändler reisten mit. Im anderen Fall war es entscheidend, dass alle Beteiligten Musiker waren: Das Arkestra von Sun Ra oder das weniger berühmte, geistig verwandte Artistic Heritage Ensemble von Phil Cohran waren so was wie Mönchskloster freier Musik. Je weniger festgelegt die musikalischen Regeln waren, desto tyrannischer wurden die Gesetze des Kollektivs oder des Königreichs. Sun Ra schärfte seinen Musikern ein, dass es zwar keine musikalischen Grenzen gäbe, wohl aber die Gefahr des falschen Tons. Auch wenn diese Möglichkeit eher spirituell und sozial als musikalisch gedacht war, wären dessen Folgen fürchterlich gewesen: die Welt wäre eingestürzt.

Neue Lust am radikal Offenen

Die neuen weitgehend improvisierenden Kollektive, die in den letzten Jahren aus dem Boden schossen, beziehen sich auf die alten – wie könnte es anders sein – distanziert. Sie leben nicht unbedingt als Horden, sie erkennen nur in deren Ästhetik einen Widerstandswert, den jede anders entstandene Musik zugunsten von fertigen Formaten und schnellen Lösungen zu früh aufgibt. Egal ob wir heute an den japanischen Acid Mothers Temple, die amerikanischen No Neck Blues Band oder Jackie-O-Motherfucker oder an das britische Vibracathedral Orchestra denken, sie alle zeichnen sich durch die Großzügigkeit aus, unter Umständen viertelstundenlang an einem Einfall zu kauen und darauf zu insistieren, ihn von allen Seiten anzusehen. Je größer die Gruppe, je inklusiver die Ästhetik, desto größer die Wichtigkeit von Tugenden wie Ausdauer und Geduld.

Das ist aber nicht langweilig. Denn auch die Perspektive des Hörers ändert sich automatisch. Man ist bei hordenhaften Truppen eher geneigt, sich in die virtuelle Position eines beteiligten Musikers zu begeben, zu fragen, was man selber als nächstes tun könnte. Man doktert mit an dieser einen verleierten Figur, an magischen Ennui jenes verdaddelten Grooves. Das Ungewaschene und radikal Offene, das nur nach Durststrecken das Feuer der Intensität fängt, steht improvisierter Musik oft viel besser als das (unausgesprochene) ängstliche Dogma der meisten seriösen Improvisierer, man möge bloß nicht zulange bei einem musikalischen Gedanken bleiben, denn man könnte ja in ein Genre kippen, eine Form entwickeln.

Manche Momente von Jackie-O-Motherfucker und Vibracathedral Orchestra erinnern mich an ein Konzert der frühen Mothers Of Invention bei Radio Bremen. Es gab ein einziges 90minütiges Stück, das mit circa 20 Minuten dadaistischer Lautpoesie begann und sich durch Gebrüll, Schlagzeug-Krieg und Free Jazz zu immer geschliffeneren Zappa-Scores kämpfte, um in einem Medley der größten Hits zu enden. Nur diese letzten 20 Minuten gab es auch im TV. Heute kriegt man dieselbe alte Dichte und Zähigkeit, aber übrigens ohne die heilige Angst der alten Improvisatoren vor einer guten Produktion.

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