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Kultur: Lasst viele Drachen steigen!

Die Wucht der Terroranschläge des 11. September erweckte in der westlichen Öffentlichkeit den Eindruck, hier habe man es mit einem gewaltigen Feind zu tun.

Die Wucht der Terroranschläge des 11. September erweckte in der westlichen Öffentlichkeit den Eindruck, hier habe man es mit einem gewaltigen Feind zu tun. Nach den Attacken auf New York und Washington fehlte es nicht an Mahnern, die darin das Menetekel eines Aufstands der "islamischen Welt" - wenn nicht gar der gesamten "Dritten Welt" - gegen die globale Vorherrschaft des Westens erkennen wollten. Zahlreiche Kommentatoren waren sich sicher, dass ein kriegerisches Vorgehen der Vereinigten Staaten gegen das Taliban-Regime und die Al Qaida eine verhängnisvolle Kettenreaktion auslösen müsse, die eine Solidarisierungswelle der Moslems in aller Welt zur Folge haben werde.

Diese Unheilsprophetien haben sich als falsch erwiesen. Zwar besteht kein Anlass zu triumphierendem Optimismus: Die Lage in Afghanistan und der umliegenden Region bleibt nach dem raschen Zusammenbruch des Taliban-Regimes unsicher. Aber der Verlauf des Krieges hat die Proportionen des Konfliktes, der ihn auslöste, zurecht gerückt und zu einer Entmystifikation der Bedrohung geführt. Zwar ist die Gefahr nach wie vor akut. Aber sie nimmt jetzt realistischere Konturen an.

Auf der Strecke geblieben ist nicht nur die Schreckensvision von einem globalen "Krieg der Kulturen", sondern auch die kulturpessimistische Prämisse, nach der die terroristische Gewalt authentische religiöse Sehnsüchte zum Ausdruck bringe und damit das Vorzeichen eines Niedergangs der säkularen Welt sei. Jetzt zeigt sich, wie sehr solche Einschätzungen auf westlichen Projektionsbildern beruhten. Die Vorstellung von einer homogenen islamischen Weltgemeinschaft diente der westlichen Kulturkritik als Gegenbild zu einer angeblich aufgelösten, überindividualisierten und von kollektivem Werteverfall gekennzeichneten westlichen Gesellschaft. Jetzt aber kann der Blick frei werden für eine differenziertere Betrachtung des islamistischen Extremismus und seiner Rolle innerhalb der säkularen Moderne.

Uralter Glaube, neueste Technik

Die Trennung von Glauben und Wissen, von religiösen Geboten und staatsbürgerlichen Maximen ist ein elementares Bauprinzip der säkularisierten Gesellschaften des Westens. Diese Trennung wird von einer integristischen islamistischen Theologie radikal negiert. Sie verspricht nicht nur, die Widersprüche muslimischer Gesellschaften in einer ganzheitlichen Gemeinschaft unter der rigiden Herrschaft religiöser Gesetze aufzuheben. Sie propagiert auch die Überwindung nationalstaatlicher und ethnischer Gegensätze durch die Errichtung eines universellen Gottesstaates. Damit formuliert sie einen radikalen Gegenuniversalismus als Gegenentwurf zur westlichen Vision von einer globalisierten säkularen Kultur.

Die Brisanz des islamistischen Fundamentalismus liegt aber gerade darin, dass er die vermeintliche Rückkehr zu den unverfälschten Geboten eines uralten Glaubens mit der modernistischen Dynamik totaler politischer Bewegungen synthetisiert und sich dabei modernster technischer, vor allem waffentechnischer Mittel bedient. Er will nicht nur den Geist von den Versuchungen individualistischer "Dekadenz" reinigen, sondern auch die profane Welt von der Verunreinigung durch die Realhistorie säubern. Der bilderstürmerische Hass der Taliban gegen die Zeugnisse buddhistischer Vergangenheit sind Ausdruck des Bestrebens, jede Erinnerung an eine geschichtliche Realität auszulöschen, die dem Absolutheitsanspruch des Glaubens im Wege steht. Absurd wirkende Vorschriften des Taliban-Regimes wie das Verbot, Drachen steigen zu lassen, erklären sich aus dieser Prämisse: Das scheinbar harmlose Freizeitvergnügen geht auf buddhistische religiöse Bräuche zurück. Die Ausmerzung des "unreinen" kulturellen Erbes geht mit der Säuberung der Vergangenheit, oder genauer: mit der Ersetzung der geschichtlichen Zeit durch die Allgegenwart der religiösen Offenbarung einher. Ewige religiöse Jetztzeit tritt an die Stelle von Geschichte.

In diesem radikalen Purifikationsbestreben gleicht der fundamentalistische Extremismus den großen totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus und dem Leninismus-Stalinismus. Deren terroristischer Impetus zielte ebenfalls auf die rückwirkende Begradigung der Geschichte durch die Auslöschung aller Zeugnisse einer unliebsamen Vergangenheit - bis hin zur Ausrottung jener Menschengruppen, die man für die Überträger der verhassten Traditionen hielt. Anders als die westlichen totalitären Bewegungen muss der islamistische Extremismus keine neue Ideologie in die Hirne und Seelen pressen. Er kann auf einen vertrauten, lebendigen Glauben zurückgreifen.

Um ihn für seine Zwecke dienstbar zu machen, muss er ihn aber radikal dogmatisieren und enthistorisieren. Genau diese Maxime rigoroser Komplexitätsreduktion aber macht den Fundamentalismus zum Todfeind des westlichen Säkularismus. Denn nicht in den vermeintlich "besseren Werten", die er "anderen Kulturen aufzwingen" wolle, liegt die Provokation des Westens für geschlossene Gesellschaften. Es ist vielmehr seine Tendenz zur Herausbildung immer größerer gesellschaftlicher Vielfalt. Eine Vielfalt, die die Pluralität von Wertvorstellungen zulässt und die Anerkennung und Verankerung von Werten der freien Entscheidung und praktischen Interaktion von Individuen überlässt.

Die Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion ist freilich ein Zug, der der säkularen Moderne selbst innewohnt. Er hat ihren Ausdifferenzierungsprozess begleitet wie ein düsterer Schatten. Es ist daher falsch, den Fundamentalismus einfachals Ausgeburt einer archaischen Antimoderne abzutun. Die westliche Moderne selbst kennt viele Versuche, mit Hilfe modernster Mittel zur archaischen Einfachheit eines imaginierten Ursprungs zurückzufinden. Das modernekritische Streben nach dem einfachen Leben und Denken gehört sogar zu den konstitutiven Triebkräften seiner Erneuerungsdynamik.

In den lebensreformerischen Bewegungen und künstlerischen Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts findet man dieses Movens ebenso wie in der paradoxen Denkfigur einer "konservativen Revolution". In den konservativ-revolutionären Zirkeln der 20er und 30er Jahre herrschte die Vorstellung, durch die zerstörerischen Kräfte der technisierten Moderne werde ein Gleichklang des Subjekts mit den elementaren Urgewalten "des Lebens" erreicht. Ein Gleichklang, der gegenüber den Einsprüchen einer dekadenten, neuzeitlich individualistischen Moral unempfindlich sei. Die überkomplexe Moderne werde sich so in einer "organischen" Ur-Ordnung selbst aufheben.

Das Paradox der Dikaturen

In ähnlicher Weise versuchen die apokalytischen islamistischen Terroristen heute, durch exzessive Zerstörung die unmittelbare Präsenz des Reichs Gottes herbeizuführen. Um für sein geistig-politisches Purifikationsprojekt Zulauf zu finden, muss der islamistische Extremismus freilich eine explosive Gemengelage krisenhafter Konstellationen vorfinden, die das Resultat fehlgeleiteter Modernisierung sind. Nicht in traditionellen, in ungebrochener Religiosität ruhenden Gesellschaften fasst er Fuß, sondern in Ländern, die Experimentierfeld von Diktaturen waren und deren Leitideologien säkularer Herkunft sind.

In Ländern wie Afghanistan, Somalia, Sudan und Jemen - wo die Extremisten ihre Hauptbastionen errichteten -, aber auch in Algerien und Ägypten - wo es einen mächtigen fundamentalistischen Untergrund gibt - herrschten einst kommunistische Regime oder Diktaturen, die sich einem Mix aus arabischem Nationalismus und Sozialismus verschrieben hatten. Saudi-Arabien wiederum ist ein Beispiel für feudalabsolutistische Herrschaftssysteme, die Machtfülle und Reichtum im Gleichklang mit westlichen Wirtschaftsinteressen und Produktionsmethoden mehrten. Deshalb wird die westliche Lebensweise von der drangsalierten Bevölkerung vielfach mit dem Herrschaftsgestus ihrer eigenen Despoten identifiziert.

Die reine Ordnung

All diese Diktaturen sind in eine umfassende Legitimationskrise geraten. Die Umdeutung ihres Konflikts mit den pluralistischen und menschenrechtlichen Implikationen der Säkularisierung in einen Religionskonflikt mit "dem Westen" dient ihnen dazu, ihre Schreckensherrschaft notdürftig ideologisch abzustützen. Im Rückgriff auf die universalistische Botschaft des Islam versucht der Fundamentalismus, diese abgewirtschafteten Regime zu konterkarieren und zugleich zu überbieten, indem er ihren aggressiven "Antiimperialismus" beerbt und eine reine, neue Ordnung im Zeichen des Heiligen verspricht. Weil er aber die bedeutendste Errungenschaft der Neuzeit, die Individualität, militant ablehnt, kann er am Ende nichts anderes bewirken als immer enthemmtere Gewalt und Destruktion.

So treibt er eben jenen Nihilismus auf die Spitze, den er an der westlichen Moderne zu denunzieren pflegt. Er beweist damit, was er blutig zu widerlegen versuchte: Religion hat in der modernen Welt nur einen Platz, wenn sie die Prämissen der Säkularisierung akzeptiert und auf ihren Allzuständigkeitsanspruch in Fragen der Ethik, des Rechts sowie der politischen und sozialen Organisation der Gesellschaft verzichtet.

Damit ist freilich die Frage berührt, in wie weit der Säkularismus nicht selbst ein profanierter religiöser Glaube ist. Seine Erwartung eines unaufhaltsamen Fortschritts der Menschheit kann durchaus als eine profanisierte Erlösungshoffnung verstanden werden. Diese Selbstgewissheit der Moderne ist aber durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nachhaltig erschüttert worden. Die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse erscheint heute nur noch als eine fragile Möglichkeit.

Der entzauberten Religion kann der Säkularismus keine überlegene Wahrheit entgegen halten. Wir erleben vielmehr eine letzte Entzauberung: die der heilsgeschichtlichen Inhalte des Säkularismus. Ein derart ernüchterter Säkularismus könnte der Religion endlich in Augenhöhe und Bodennähe begegnen - auf der gemeinsamen Suche nach erträglichen Lösungen der Probleme einer ungewissen Welt.

Richard Herzinger

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