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Kultur: Leben im Zeichen des Geizes

Die meisten Deutschen glauben, dass es abwärts geht, und das Schlaraffenland ist in die Ferne gerückt. Kleiner Versuch über die gefühlte Armut

Viele, viele Jahre gehörte die zwanglose Frage „Haste mal ne Mark?", gestellt von einem Menschen, der sich quasi als Kumpel in vorübergehenden Schwierigkeiten inszenierte, zur Folklore in Berlin und anderen großen Städten. Nicht immer, aber oft hatte man eine Mark oder zwei, die man leicht entbehren und den Helden der Vagabondage, den Junkies, Alkis oder jugendlichen Trebegängern schenken konnte. Natürlich sieht man sie immer noch im Stadtbild, diese verlorenen Seelen, die auch die wohlhabendste Gesellschaft produziert und die erfahrungsgemäß jedem Bemühen zur Rettung und Integration seitens der Sozialarbeiter trotzen.

Aber inzwischen ist dem gutmütigsten Passanten der Humor abhanden gekommen, mit dem er diesen besonderen Armen einmal begegnen konnte. Sie haben nämlich, unübersehbar für jeden, der sich zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt bewegt, Konkurrenz bekommen. Die Konkurrenz rekrutiert sich aus ordentlich, ja bürgerlich wirkenden Menschen, zum Beispiel aus qualifizierten Musikern aus Osteuropa, die ihre Kunst in einem Durchgang der Untergrundbahn vorführen. Vor einer Bankfiliale, an einer belebten Kreuzung und in der unmittelbaren Nähe von drei Zeitungsläden, verkauft eine ältere Frau, die man sich gut als Buchhalterin eines kleinen Unternehmens vorstellen könnte, Zeitungen. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie viel Geld sie unter diesen Umständen beim stundenlangen Herumstehen einnehmen kann. Eine andere, jüngere Frau offeriert im Selbstbedienungsschalter der Sparkasse mit angestrengter Munterkeit originelle Grußkarten, im Dutzend billiger. Ersichtlich auch hier jemand, der ein Opfer der miesen ökonomischen Lage und der Arbeitslosigkeit ist, sich aber durch die Gründung einer Ich-AG dagegen wehrt, zur Sozialhilfeempfängerin degradiert zu werden.

Vorbei sind auch die Zeiten, in denen Rosenverkäufer aus exotischen Ländern, Asylbewerber mit einem Bauchladen voller Feuerzeuge, buntem Schmuck und Tand uns an die Verfolgung und die desolaten Zustände in vielen Ländern der Erde erinnerten. Weil es immer die Jungen und Unternehmungslustigsten waren, denen die Flucht aus ihnen gelang, strahlten sie Hoffnung und Optimismus aus. Und das unterscheidet jene armen Flüchtlinge von den Gestalten, die heute im Stadtbild zu sehen sind und leise Anspruch auf die Unterstützung der Passanten erheben.

Das erstmals seit vielen Jahren um 0,3 Prozent geschrumpfte Wirtschaftsvolumen, ermahnte uns kürzlich ein deutscher Ökonom zur Gelassenheit, erlaube noch nicht, von einer Rezession zu sprechen. Auch die hohen Armutsquoten, die die Sozialforscher vorlegen, müssten uns die Stimmung nicht wirklich verderben; denn Armut wird bei uns statistisch großzügig definiert. Arm ist demnach jemand, der über weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügt. Es ist also eine relative, keine absolute Armut, die die Forscher im Blick haben. In einem reichen Land finden sie eben keine Bilder Dickensschen Elends, die unsere Vorstellung von Armut prägen.

Aber was vermögen solche Überlegungen gegen die Eindrücke im Alltag, die einen steten Sinkflug zu signalisieren scheinen? Der Tabakladen um die Ecke verkauft seit längerem einzelne Zigaretten zum Preis von 20 Cent. „Das ist blöd“, erklärt mir die Verkäuferin, „weil die Zigaretten in der Packung billiger kommen.“ Aber der Bedarf ist da, und man weiß nicht so recht, ob halbbekehrte Raucher hier noch einmal zulangen oder die einzelne Zigarette für manche zu dem Luxusartikel geworden ist, der sie in den Zwanzigerjahren auch schon mal war. Trotz aller Kampagnen für die Volksgesundheit, unterstützt von saftigen Preiserhöhungen, wird nirgends so viel geraucht wie in den Fluren der Sozial- und Arbeitsämter, wo die Armen und Verarmenden besonders zahlreich sind.

Es fallen einem jene großen Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen des vergangenen Jahrhunderts ein, die auch den Mittelstand und das Bürgertum, Beamte und Hausbesitzer nicht verschonten: Zeiten, die man nur aus dem Geschichtsunterricht kennt. Allen Reden von nötigen Reformen, Innovationen und Veränderungen im Dienst der zukünftigen sozialen Sicherheit zum Trotz haben nach einer Auftragstudie der ARD und der „Frankfurter Rundschau“ Drei Viertel der Deutschen das Gefühl, dass es abwärts und nicht auf- oder wenigstens vorwärts geht, so, wie wir es lange gewohnt waren.

Natürlich kann man über den Realismus solcher Stimmungsbilder streiten. Die meisten Menschen haben ja Arbeit, verfügen über Besitz und mehr Geld als jede Generation zuvor. Aber wie geben sie es aus? An die Stelle der saloppen Bettelparole ist eine andere getreten: „Geiz ist geil!“ Populär ist sie nicht bei denen, die wirklich verzichten und sparen müssen, sondern bei denen, die es eigentlich nicht nötig haben. Die Umstellung ihres Kauf- und Konsumverhaltens im Zeichen des Geizes ist ein Reflex auf die sorgenvolle Stimmung, die auch sie ohne aktuelle Not erfasst hat und nun in die Aktivität des Schnäppchenjägers umgesetzt wird. Tipps werden über jene exquisiten Kaffeesorten und Champagner ausgetauscht, die man dann tatsächlich in den Hallen der Billigdiscounter findet, wo man seit Studententagen nicht mehr gewesen ist. Man muss nicht wenig herumrennen, bis man alles beisammen hat, aber man hat beim Kaufen gespart und sich dabei als cleverer und souveräner Akteur im Wirtschaftsleben bewährt.

Der gehobene Handel klagt über diese Entwicklung, passt sich aber an – oder klinkt sich aus. Der Supermarkt an der Ecke, der den 1989 in den Westen strömenden DDR-Bürgern zu Recht als ein Schlaraffenland differenzierter Genüsse vorkam – 100 Sorten Käse, 17 Sorten Knäckebrot – stirbt aus. Natürlich bleiben das KaDeWe oder die Galerie Lafayette. Aber im Kiez, in fußläufiger Entfernung von der Wohnung, ist das Schlaraffenland geschlossen.

Katharina Rutschky

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