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Ausschnitt des Buchcovers.

© Kiepenheuer & Witsch

John Banvilles Roman "Im Lichte der Vergangenheit": Lebendig für mich und dennoch verloren

Zwischen Erinnerung und Erfindung: John Banvilles neuer Roman „Im Lichte der Vergangenheit“ untersucht das Wirkliche und das Mögliche.

Wer leidet, für den verwandeln die Dinge ihre Form. Alles scheint in ein stärkeres Licht getaucht, offener, zugleich schärfer, als hätte die Welt plötzlich ein anderes Gewicht. Der Geist wirkt dann wie erweitert, meint der Erzähler, aber auch schutzlos, „den rauen Elementen ausgesetzt“. Darin ähnelt das Leiden dem Erinnern, das die Welt ebenso verschiebt. Ja, mehr noch, es fügt den Dingen sogar, ohne dass wir es recht eigentlich merken, etwas hinzu oder lässt Entscheidendes weg, und die Erinnerung gleicht so vielleicht mehr der Erfindung, als dass sie etwas von der Vergangenheit treffen würde.

Die große Kluft zwischen dem, was man erlebt, und den Bildern, die das Gedächtnis und die Fantasie davon verwahren, treibt den irischen Schriftsteller John Banville von jeher um. Schon in seinem Buch „Die See“ (The Sea) hat er jenen versprengten Teilen nachgetastet, die von der Vergangenheit übrig geblieben sind und die sich nie zu einem Ganzen fügen wollen. War es dort ein Kunsthistoriker, der vermeintlich glückliche Kindheitstage am Meer wachzurufen versucht, so ist es diesmal ein alternder Schauspieler, der sich in die Splitterwelt der Vergangenheit begibt.

Diesen Alexander Cleave, Banville-Lesern aus dem Buch „Sonnenfinsternis“ (Eclipse) vertraut, setzt John Banville gleich zu Beginn des Romans in ein Dachzimmerchen, wo er zum Erzähler seiner Geschichte und das Zimmer zum „Adlerhorst“ wird. Nur ab und an unterbrochen von Besuchen seiner Frau Lydia, schreibt sich Cleave zurück an den Schauplatz seiner ersten großen sexuellen Erfahrung, die er als 15-Jähriger gemacht hat, nicht etwa mit einem gleichaltrigen Mädchen, sondern mit der Mutter seines damals besten Freundes.

Ticke-tacke-ticke-tacke macht das Herz

Es ist eine Kunst für sich, wie Banville die Liaison in all ihren sinnlichen Details ausbreitet und mit Reflexionen über die Erinnerung durchmischt. Seine Sprache lässt den Geruch der Sitzpolster in einem alten Kombi ebenso lebendig werden wie die Stille, die sich im Sommer über den Bahnsteig legt, wenn ein Zug ausfährt. Christa Schuenke hat diese atmosphärischen Szenen in ihrer Übersetzung sehr gut eingeholt und mit einem eigenen Rhythmus versehen, wie das „ticke-tacke-ticke-tacke“ von Alex Cleaves Herz saust das Schwungrad der Sätze im Kreis herum.

Doch John Banville wäre nicht John Banville, gäbe er sich mit einer einfachen Geschichte zufrieden. So wie Zeit und Erinnerung für den Erzähler ein „pingeliges Team von Innenausstattern“ sind, so baut Banville den Raum seines Romans aus mehreren ineinander verschränkten Ebenen auf. Über die Erinnerungsschicht etwa schiebt sich eine bisweilen fast detektivisch anmutende Spurensuche. Alex Cleave versucht eine Erklärung dafür zu finden, warum seine Tochter Cass sich zehn Jahre zuvor in Italien das Leben genommen hat. Den Zusammenhalt der verschiedenen Stränge schließlich soll die Erzählung einer Wiederentdeckung leisten: Cleave erhält das Angebot, in einem Film den Kritiker Axel Vander zu spielen, einen exzentrischen Literaturliebhaber, dem Banville schon seinen Roman „Caliban“ (Shroud) gewidmet hat.

Schwache Andeutung statt echtes Formelement

Allerdings gehört diese Klammergeschichte nicht zu den Stärken des Romans. Was an anderen Stellen geschickt in den Lauf der Sätze eingestreut wird – das Verhältnis von Gegenwart und Erinnerung oder Reflexionen über das Wesen des Spiels –, ist hier allzu schematisch ausgestellt. Schon das geplante Filmprojekt hat den überdeutlichen Titel „Erfindung der Vergangenheit“. Dazu tragen die Figuren, die mit der Verfilmung beauftragt sind, vielsagende Namen mit gleichen Initialen: Eine Marcy Meriwether tätigt die Anfragen, Dawn Devonport spielt die Hauptrolle, der Regisseur endlich heißt Toby Taggart. Vollends aber scheint die Konstruktion durch die Idee, der tatsächliche Axel Vander könnte Cass in Italien begegnet sein und Schuld an ihrem Tod haben. Diese postmoderne Durchdringung von vermeintlicher Wirklichkeit und Fiktion ist nur oberflächlich mit den anderen Schichten des Romans vermittelt, wirkt eher als schwache Andeutung denn als echtes Formelement.

Überzeugender für die Gestaltung sind die zahlreichen Anspielungen auf mythologische Figuren und Werke der bildenden Kunst. Sei es, dass eine Göttin mit all ihren „bestirnten Feen“ dem Liebesspiel des jungen Alex beiwohnt, sei es, dass sich Mrs Gray im Rückblick des Erzählers selbst in eine Nymphe verwandelt. Für solche mythischen Überhöhungen wurde Banville wegen ihrer vermeintlichen Künstlichkeit in der Vergangenheit oft kritisiert. Aber auch in diesem Roman ist die Sphäre der Projektionen klug in den anderen Ideen aufgehoben. Wo sich zwischen Erinnerung und Erfindung kaum mehr unterscheiden lässt, können die Bilder auch jederzeit ins Fantastische kippen.

Kurz vor dem Ende erwähnt der Erzähler einmal die „Lehre von den vielen Welten“, die Vorstellung, es gäbe eine Vielzahl an gleichzeitigen Universen, in denen alles, was passieren kann, auch wirklich passiert.

Es gehört zu John Banvilles Geschick, dass er diesen vielen Möglichkeiten auf den letzten Seiten noch eine durchaus überraschende hinzufügt. Und dass in seinem Romannetz die Vergangenheit eine leuchtende und immerwährende Gegenwart ist – und die Toten wieder lebendig sind. „Lebendig für mich und dennoch verloren“, fügt der Erzähler hinzu, „außer in der fragilen Nachwelt dieser Worte.“

John Banville: Im Lichte der Vergangenheit. Roman. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 333 Seiten, 19,99 €.

Nico Bleutge

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