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Verena Moritz, Hannes Leidinger:Oberst Redl. Der Spionagefall.

Verena Moritz, Hannes Leidinger:

Oberst Redl. Der Spionagefall. Der Skandal. Die Fakten. Residenz-Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien 2012, 332 S., 24,90 €.

Das 20. Jahrhundert war erst ein Jahrzehnt alt, als die Donaumonarchie 1913 bereits ihren Jahrhundertskandal zu erleben glaubte: Den Landesverrat ihres obersten Spionagechefs, der selbst zum Topspion gegen sein Land wurde und dem zaristischen Russland Österreichs Mobilisierungs- und Aufmarschpläne für den Kriegsfall verriet. Als „Affäre Redl“ ist der Fall des Generalstabsobersten Alfred Redl – Wien sprach man sogleich vom „Unredl“ – in die Geschichtsbücher eingegangen, in die Literatur durch Egon Erwin Kisch, der über ihn mehrere Bücher und ein Theaterstück verfasste. Dass der Spion seine Geheimkorrespondenz unter der Chiffre „Opernball 13“ geführt habe, ist zwar eine frei erfundene Pointe Kischs, aber als Zeuge der ersten Ermittlungen und Verhinderer ihrer Vertuschung gilt Kisch gewissermaßen als Aufdecker des Skandals. Das bestätigen Verena Moritz und Hannes Leidinger in ihrer detektivischen Faktensammlung, die mit neuen Details aus Moskauer Archiven und den 1994 aufgefundenen (80 Jahre lang verschwundenen) Ermittlungsakten aufwarten kann. Dass sie „ein völlig neues Licht“ auf „eines der rätselhaftesten Kapitel der österreichischen Geschichte“ werfen, ist allerdings Verlagswerbung. Tatsächlich hat Redl vor seinem Selbstmord mit einem Revolver, den ihm seine militärischen Vorgesetzten zu diesem bewilligten Zweck aushändigten, ein eindeutiges Geständnis abgelegt, nachdem sowohl sein Agentenlohn wie fotografische und briefliche Beweise für eine Erpressung durch homosexuelle Partner gefunden worden waren. Seinen Agentenlohn hatte er nicht nur für ihre Dienste und für ihr Schweigen, sondern auch für seinen aufwendigen Lebensstil mit zwei Wohnungen, mehreren Reitpferden, zwei Automobilen, zwei Chauffeuren und drei Dienern benötigt. Für seine Zeitgenossen war er damit zum Monster abgestempelt, für gnädigere Betrachter von heute war er nicht nur Täter und krimineller Landesverräter, sondern auch Opfer seiner damals als abartig kriminalisierten Veranlagung. Er selbst schrieb im Abschiedsbrief an seinen Bruder: „Leichtsinn und Leidenschaft haben mich vernichtet.“ Das war wohl so, tilgt aber nicht seine wirkliche oder zumindest mögliche Schuld am Tod vieler Kameraden an den Fronten des Ersten Weltkriegs, wenn nicht gar – wie seine strengsten Richter meinen – an der Niederlage und dem Untergang des k. u. k. Reichs.Hannes Schwenger

Michail Chodorkowski (mit Natalija Geworkjan): Mein Weg. Ein politisches Bekenntnis. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013. 640 S., 22,99 €.

Der spannendste Teil dieses Buchs ist noch nicht geschrieben. Dieses Gefühl jedenfalls dürfte vielen Lesern das Schlusskapitel von Michail Chodorkowskis Biografie vermitteln. Da formuliert Russlands prominentester Häftling ein politisches Programm, das eines deutlich macht: Dieser Mann ist fest entschlossen, nach seiner Haftentlassung in Russland noch eine Rolle zu spielen. Welche das sein wird, ist die unbeantwortete Kernfrage in Chodorkowskis Biografie. Gut 600 Seiten liegen vor dem Schlusskapitel. Nicht immer überzeugt die Lektüre. Das beginnt mit der ärgerlich reißerischen Aufmachung der deutschen Ausgabe: Von „Aufzeichnungen, die aus der Haft in den Westen gebracht wurden“, wird auf dem Umschlag geraunt –, als hätte Chodorkowski nicht auch in Russland wiederholt aus dem Gefängnis heraus Artikel publiziert, als sei die Originalausgabe nicht auch in Russland erhältlich, als seien nicht zuvor schon andere Bücher russischer Autoren im Briefwechsel mit Chodorkowski entstanden: Waleri Panjuschkins „Michail Chodorkowski“ sowie „Briefe aus dem Gefängnis“ von Ljudmila Ulitzkaja und Boris Akunin, beide auch auf Deutsch erschienen. Gerade im Vergleich mit diesen beiden Büchern ist das vorliegende zudem kein Musterbeispiel an kritischer Distanz. Chodorkowskis biografische Briefe füllen etwa die Hälfte des Buchs, ergänzt werden sie durch Beiträge der russischen, im Pariser Exil lebenden Journalistin Natalija Geworkjan, die leider mehr Huldigungsprosa als kritische Einordnung sind. Auch die vielen Chodorkowski-Vertrauten, die in Interviews zu Wort kommen, äußern sich naturgemäß durchweg positiv über ihren Freund, Verwandten und Arbeitgeber. Das verleiht dem Buch eine Einseitigkeit, die Chodorkowskis Beiträge eher schwächt als stärkt. Insbesondere in der ersten Hälfte, die vom rasanten Aufstieg in der späten Sowjet- und frühen Privatisierungsära erzählt, lässt sich nur schwer glauben, dass Chodorkowskis Geschäfte tatsächlich so uneingeschränkt sauber und legal verliefen, wie es der Autor beteuert. Wirklich interessant wird das Buch erst im hinteren Teil. Die gedankliche Wende, die Chodorkowski hier beschreibt, seinen neu gefundenen Glauben an die Notwendigkeit und Möglichkeit eines grundlegenden Gesellschaftswandels in Russland – all das wirkt glaubhaft. Und wirft einmal mehr die Frage auf, was die Zukunft für Chodorkowski bereithält.Jens Mühling

Hannes Schwenger

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