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Kultur: Liebe und Verrat

Einstweilige Verfügung der Titelfigur: Maxim Billers neuer Roman „Esra“ wird zum juristischen Streitfall

Von Gregor Dotzauer

Hinten, auf der Seite mit den Details zum Copyright von Maxim Billers neuem Buch „Esra“, stehen zwei Sätze, die sich nur in wenigen literarischen Werken finden, weil man sie in der Regel voraussetzt: „Sämtliche Figuren und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen sind deshalb rein zufällig und nicht beabsichtigt.“ Vorne aber, gleich zum Anfang, liest man folgendes: „Als Esras Mutter den Nobelpreis bekam, schien es so, als würden Esra und ich es vielleicht doch noch schaffen. Es war nur der alternative Nobelpreis – der echte wäre ihr natürlich lieber gewesen –, aber trotzdem hatte er diese herrische, ehrgeizige Frau für eine Weile friedlich gemacht.“ Eine unangenehme Frau, wie sich mehr und mehr herausstellt, eine streitsüchtige Türkin namens Lale Schöttle, die in zweiter Ehe mit einem Münchner Anwalt verheiratet ist und sich gegen die Liebe des Ich-Erzählers zu ihrer Tochter stellt. Eigentlich eine interessante, literarisch ergiebige Figur – nicht weniger als ihr Kind.

Künstlerpech, dass sich in dieser Konstellation zwei Frauen empört wiedererkannten, denen vorgestern das Münchner Landgericht I beisprang und gegen Billers Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch eine einstweilige Verfügung wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten erließ: Ab sofort darf „Esra“ nicht weiter vertrieben und beworben werden. Nur die erste, bereits ausgelieferte Auflage von rund 4000 Exemplaren darf vom Buchhandel noch verkauft werden.

Welche realen Züge die Beschwerdeführerin und ihr Abbild Lale auch gemein haben mögen, mangelndes Geschäftstalent oder etwa den Hang zum Alkohol: Es ist für einen mit Internet-Zugang ausgerüsteten Leser kein Problem, binnen einer Minute eine mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnete türkische Bürgerrechtlerin ausfindig zu machen – es gibt nur eine. Und sobald man erfährt, dass Esra mit 17 Jahren die Hauptrolle in einem Film gespielt hat, der mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet wurde, macht es auch keine Mühe, ihren Klarnamen zu identifizieren. Von da aus erschließen sich weitere Übereinstimmungen zwischen Vorbild und Figur. So ganz ausgedacht scheint der Stoff in einer durch und durch realistischen Münchner Szenerie zwischen dem Schwabinger Eiscafé (selig) Venezia und der Schumann’s-Bar in der Maximilianstraße also nicht zu sein. Das Fragwürdige daran ist, dass man nicht einmal Billers frühere, mit persönlichen Details versetzte journalistischen Arbeiten kennen muss, um die Koketterie des schriftstellernden Ich-Erzählers Adam mit dem autobiografischen Gehalt seines Romans zu durchschauen.

„Esra“, die Erzählung einer verzweifelten, enttäuschten, hoffnungslosen Liebe, hat den Charakter einer sehr privaten Abrechnung. Das macht das juristische Problem so heikel. Im noch immer Maßstäbe setzenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1971 zugunsten von Klaus Manns Roman „Mephisto“, in dem Gustaf Gründgens’ Adoptivsohn die Ehre seines Vaters verletzt sah, konnte sich das Plädoyer für die Kunstfreiheit auch auf das öffentliche Interesse an der politischen Rolle des Künstlers im Dritten Reich berufen, die Mann in der Figur des Schauspielers Hendrik Höfgen geschildert hatte. „Esra“ kann so viel künstlerischen Gestaltungswillen schwerer in Anspruch nehmen, und der alltägliche Erzählton lässt wenig literarische Steigerung erkennen, die für den Vorrang der Kunstfreiheit gegenüber den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen sprechen würde – schon gar nicht im Ausmalen intimer familiärer und sexueller Details.

Helge Malchow, verlegerischer Geschäftsführer von Kiepenheuer & Witsch, will von alledem nichts geahnt haben. Es sei, sagte er dem Tagesspiegel, nicht Aufgabe eines Verlegers, sich beim Lesen von Romanen die Frage nach der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu stellen. Bei „Esra“ handle es sich um ein Sprachkunstwerk mit eigenen Gesetzen. „Der Verlag und der Autor bedauern, dass ,Esra‘ von den Betroffenen als Verletzung ihrer Privatsphäre empfunden wird, halten die Vorwürfe gleichwohl für unberechtigt, da es sich um ein Werk der Literatur handelt, dessen Freiheit geschützt ist und vom Verlag verteidigt wird.“ Dennoch will Malchow erst in den nächsten Tagen entscheiden, ob er gegen die Verfügung Widerspruch einlegen oder sie akzeptieren wird. Auch über die dritte Möglichkeit, dem Buch seine Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit durch Streichungen und Verfremdungen auszutreiben, wird er sich wohl gemeinsam mit Maxim Biller Gedanken machen.

„Esra hatte von Anfang an zu mir gesagt, ich dürfe nie etwas über sie schreiben“, heißt es einmal im Buch. Und wenig später: „Dennoch will ich nicht gesagt bekommen, worüber ich schreiben darf und worüber nicht. Das ist so, als nähme man mir die Luft zum Atmen.“ Man mag darin schon eine Flucht nach vorn sehen. Es ist der Versuch, die Deutungsmacht über eine unglückliche Vergangenheit zu erhalten. Falls es dabei um Liebe ging, droht dabei allerdings auch der Verrat.

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