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Lion Feuchtwanger: Im toten Winkel

Die Beschränktheit des Zeitgenossen: Zur Jahreswende 1936/37 besuchte Lion Feuchtwanger, der erfolgreichste deutsche Schriftsteller im Exil, die Sowjetunion. Solche Besuche - wie Monate zuvor der von André Gide - wurden von den sowjetischen Behörden sorgfältigst organisiert.

Sie wollten die Welt durch die Augen anerkannter Schriftsteller eine Idealansicht des Sowjetlandes übermitteln. Am 8. Februar 1937 verließ Feuchtwanger Moskau. Von den Schriftstellerkollegen, die ihn zum Bahnhof begleiteten, wurden Sergej Tretjakow und Isaak Babel bald darauf Opfer des stalinistischen Terrors, ebenso wie sein Übersetzer Boris Tal - das war die furchtbare Realität dieses Jahres.

Kann man als Zeitgenosse Geschichte erkennen, in dem Moment, da sie stattfindet - 1989 oder 2009? Das ist die Frage, die Feuchtwangers Moskau-Reise exemplarisch stellt. Sein - selbstverständlich wohlmeinendes - Buch "Moskau 1937" erschien im renommierten Amsterdamer Exilverlag Querido. Für Karl Schlögel, dessen jüngstes Buch "Terror und Traum. Moskau 1937" ein Ereignis ist (Carl Hanser Verlag, München 2008, 812 S., 29,90 €), geht es nicht darum, Feutchwangers Ansichten zu beurteilen, sondern "um die Frage, wie sich ein aufmerksamer, wacher und verantwortungsbewusster Zeitgenosse ein Bild von Moskau im Jahr 1937 gemacht hat oder hat machen können". Und dann schließt Schlögel sein Buchkapitel zu Feuchtwanger mit einem verblüffenden Satz: "Aber als 10 Jahre nach Feuchtwangers ,Moskau 1937'' - ebenfalls im Querido Verlag in Amsterdam - ,Die Dialektik der Aufklärung'' erschien, verfasst von Feuchtwangers Nachbarn im kalifornische Exil, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, findet sich darin von Feuchtwangers Erfahrung nicht der Rest einer Spur."

Über die Epoche des Stalinismus ist seit der Öffnung der vormals sowjetischen Archive enorm viel veröffentlicht worden. Schlögels Buch verdichtet die Geschichte der Stalinzeit in dieses eine Jahr 1937. Entscheidend ist, dass er die Perspektive des fiktiven Beobachters, des Stadtbesuchers einnimmt. Das gerade macht das Feuchtwanger-Kapitel so aufschlussreich, weil sich Schlögel in die Schwierigkeit hineinversetzt, zu einer Zeit, da Europa Land für Land vom Faschismus erfasst wurde, die Vorgänge in Sowjetrussland zu verstehen, ja überhaupt nur zu erkennen. Immerhin war der Schriftsteller bei einem der großen Schauprozesse zugegen, die die bis dahin in Westeuropa bestehende nahtlose Übereinstimmung der Linken mit der Sowjetunion so heftig erschütterten.

Das Motiv des Nicht-Hinsehen-Wollens

Die Bemerkung über Adorno und Horkheimer zielt insgeheim auf das Grundverständnis der intellektuellen Linken, wie es unter den 68ern geherrscht hat. Es geht genau auf das Muster der dreißiger Jahre zurück. Die welthistorische Grundkonstellation jenes Jahrzehnts, in der Stalins Sowjetunion das einzige unerschütterliche Bollwerk gegen den Faschismus zu bilden schien, hat die Wahrnehmung der stalinistischen Diktatur und ihrer Verbrechen stets wohlwollend überdeckt. Woran es unter westlichen Intellektuellen mangelte, war die Anschaulichkeit der damaligen Zeit. Da leistet Schlögels von staunenswerter Detailkenntnis getragene Darstellung ungeheuer viel.

Zudem ist gleichzeitig das - zuerst in Frankreich publizierte - Buch "Die Ära Stalin. Leben in einer totalitären Gesellschaft" erschienen ist, mit 250 von dem Fotohistoriker Mark Grosset zusammengestellten Aufnahmen und Texten von Nicolas Werth (Theiss Verlag, Stuttgart 2008. 255 S:, 250 Abb., 49,90 €). Werth musste als Mit-Autor des "Schwarzbuchs des Kommunismus" vor zehn Jahren noch heftigste Kritik einstecken - eben von jenen, die die Sowjetunion immer als Gegenpol zum Nazi-Regime verteidigten, wie sie gerade im Jahr der Feuchtwanger-Reise 1937, als zudem in Spanien der Bürgerkrieg mit dem Franco-Faschismus tobte, in der Tat erscheinen musste.

Es ist die Anschaulichkeit von Geschichte, an der es im Verhältnis zur Sowjetunion mangelte; verstärkt vom Motiv des Nicht-Hinsehen-Wollens, das bis 1989 eine Rolle gespielt hat. Nicht nur Feuchtwanger ist in die Falle der Gutgläubigkeit getappt, aus politischem Kalkül, auf der richtigen Seite stehen zu wollen. Heute lassen sich Bücher wie von Schlögel und Grosset/Werth nur mit Kopfschütteln lesen. Denn das Menschheitsexperiment, das der Stalinismus mit seinen - 1937 immerhin 162 Millionen - Untertanen unternommen hat, das sich über Jahrzehnte erstreckte und mit Abermillionen Opfern bezahlt wurde, dieses Experiment zur Schaffung einer vollständig neuen Gesellschaft bleibt letztlich ein Rätsel.

Doch je anschaulicher dies Rätsel wird, desto mehr entzieht es sich dem Verständnis. Wie vielleicht jede Epoche der Geschichte, die der Zeitzeuge nicht überblicken kann und der Nachgeborene kaum nachfühlen. Und meist sogar beides nicht, wie Schlögels Bemerkung über die beiden anderen Exilanten in Erinnerung ruft, die im sicheren Kalifornien über das Unheil namens Kapitalismus nachdachten.

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