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Freier Blick. Der Stand von Litauen auf der Leipziger Buchmesse.

©  Hendrik Schmidt/dpa

Litauen auf der Leipziger Buchmesse: Im Reich des rechtsdrehenden Schwänzchens

Hatschek, Macron und die Tücken der Typografie: Wie sich das Schwerpunktland Litauen auf der Buchmesse Leipzig präsentiert.

Von Gregor Dotzauer

Von der Flut diakritischer Zeichen, die dem Deutschen gerade mal die Umlautpünktchen über dem A, dem O und dem U beschert hat, kennt auch das Litauische nur einen mittleren Regenschauer. Die indogermanische Sprache lebt wie viele slawische Nachbarn mit dem Hatschek, einem Häkchen über dem S und dem C. Sie besitzt den Macron, einen waagrechten Strich über dem U, der sich auch im Lettischen, im Hawaiischen oder dem Maori findet. Sie verfügt über den Ogonek, ein rechtsdrehendes Schwänzchen unter einigen Vokalen, muss ihn sich aber mit dem Polnischen oder dem Alphabet der Navajos und Apachen teilen. Ganz und gar allein auf dieser Welt ist sie allerdings mit einem unscheinbaren Punkt über dem Buchstaben E, der nicht einmal einen eigenen Namen hat. Dabei hätte das litauische „T“ oder „t“ jeden Adelstitel verdient: Der Punkt kann einen Unterschied ums Ganze machen.

Auf der Leipziger Buchmesse, die Litauen als Schwerpunktland eingeladen hat, gibt es in Halle 3 einen ganzen Stand, der sich dem typografischen Unikum widmet. Die grafische Abteilung der Kunstakademie in Vilnius versucht, dem Phänomen in seiner semantischen Abgründigkeit auf den Grund zu gehen. Das Verb „vtsti“ etwa heißt so viel wie abkühlen, „vesti“ dagegen heiraten. Kommentar an der Schautafel: „Ohne Punkt muss ich jedes Mal jemanden heirate, wenn mein Tee abkühlt.“ Und wie spricht man dieses „t“ aus? Die mit einer „T“-Orgie unterlegte Filmcollage mutet ungeübten Ohren durchaus einen gewissen Ambitus zu. Um voreilige Heiratsanträge zu vermeiden, reicht es jedoch aus, sich das „t“ als einen dem deutschen Ä verwandten, möglichst kurz gehaltenen Laut vorzustellen, etwa wie in März. Die unmerklichen Varianten, erklärt ein litauischer Kunststudent, erfasst aber wohl nur der Muttersprachlermund.

Wer dieses kleine Sprachtraining absolviert hat, kann sich in Halle 4 der eigentlichen Präsentation des baltischen Staates widmen. Gleich neben einem Tourismus- Stand betritt man eine weiße Schlucht aus übereinandergestapelten quadratischen Holzboxen. Jede einzelne hat eine Aufschrift, die das Buch anzeigt, das sich in ihr verbirgt, und ein Stangenscharnier, mit dem man sie aus der geschlossenen Wand herausdrehen kann. In mehreren Abteilungen wird hier ein kleiner Kanon in jüngerer Zeit verlegter Werke inszeniert, die man auf die aus der Schlucht hinausführende Freitreppe mitnehmen kann, von deren oberem Ende aus sich die gesamte Halle überblicken lässt.

Verschwenderisch schön gestaltete Publikationen

Der freie, weite Blick hat im 20. Jahrhundert viele Litauer aus ihrem Land herausgeführt – nicht alle freiwillig. Wenn man etwa die „Scrapbooks of the Sixties“ des 1922 in Litauen geborenen New Yorker Avantgardefilmers, Autors und Dichters Jonas Mekas aus dem Fach nimmt, kann man sich in seinen Interviews mit Andy Warhol, John Lennon und Yoko Ono oder Nam June Paik festlesen. Man muss sich aber auch daran erinnern, dass Mekas, den die Litauer als Helden verehren, ein Jahr vor Kriegsende von den Nazis in ein Arbeitslager im schleswig-holsteinischen Elmshorn deportiert wurde, nach der Befreiung mehrere Lager für „Displaced Persons“ durchwanderte, bevor er in Mainz Philosophie studierte und 1948 in die USA auswanderte.

Ein freier, weiter Blick prägt auch die verschwenderisch schön gestalteten und ausgestatteten Publikationen, die das Litauische Kulturinstitut zur Messe herausgebracht hat. Laurynas Katkus gibt einen Crashkurs in Sachen „100 Jahre litauischer Literatur“. Die Zeitspanne ist so bewusst gewählt wie bei dem 350-seitigen Essayband „Fortsetzung folgt: Im Zuge der Moderne – Ein Jahrhundert Litauen 1918–2018“. Denn der moderne litauische Nationalstaat wurde am 16. Februar 1918 ausgerufen, wollte sich weder von den Polen noch der Wehrmacht und dann den Sowjets unterdrücken lassen und tritt nun ein Jahr vor dem Jubiläum in Leipzig mit jenem Motto an, das kein Redner unerwähnt lässt: „Fortsetzung folgt“.

Rund 150 Jahre vor diesem Kampf um Modernisierung entstand das dichterische Grundbuch Litauens: „Die Jahreszeiten“ des Pfarrers Kristijonas Donelaitis. Sein Zehlendorfer Kollege Gottfried Schneider hat es bei Langewiesche- Brandt gerade zum ersten Mal in seiner ursprünglichen Hexameter-Form ins Deutsche gerettet. Eine duftige, deftige bis derbe Impressionenfolge zu Naturluft, Land und Bauersleuten. Ihr Zauber zeigt auch unter den Städtern im heutigen Litauen noch Wirkung. An der Donelaitis-Statue der Universität von Vilnius verabreden sich viele noch immer gerne zum ersten Rendezvous.

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