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Hier wird für künftige Generationen schon mal sondiert. Selbstporträt des Marsfahrzeugs Curiosity.

© Reuters

Literarische Science-Fiction: Der Mars macht mobil

Reinhard Jirgl schaut in die Zukunft und entdeckt unterirdische Städte auf fremden Planeten.

Wenn der Blick auf die Gegenwart nicht ausreicht, stellt man sich einen Ort vor, wo man vielleicht sein Leben zubringen möchte. Oder wenigstens einen, „wo es Stil hat, zu verweilen“. So hat es Robert Musil einmal genannt und gleich ein Beispiel für seine Idee gegeben. Eine „überamerikanische“ Stadt, in der alles nach der Stoppuhr eilt oder stillsteht: „Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre“.

Es ist dieser utopische Stoff, aus dem der Büchnerpreisträger Reinhard Jirgl seinen neuen Roman gebaut hat. Von jeher interessieren Jirgl die menschlichen Verwerfungen, Gesellschaftsfantasien und die Hybris der Macht, die er in seiner ganz eigenen, von Wortexperimenten und grammatischen Schlenkern durchsetzten Sprache entfaltet. Und jede erzählerische Analyse ist ihm zugleich ein Weg der Erkenntnis. Nicht von ungefähr lautete das Motto seines zuletzt erschienenen Romans „Die Stille“ (2009): „Dieses Buch ist der Zukunft gewidmet“. War es dort die Atmosphäre der sommerlichen Gluthitze Berlins im Jahre 2003, so ist es nun die wirkliche Zukunft. Das 25. Jahrhundert auf Erde, Mond und Mars, womit nach der Umstellung auf die dominante Marszeit etwa das Jahr 2550 unserer Zeitrechnung gemeint ist.

Schon Musil färbte seine Gesellschaftsidee negativ ein. Aber er hätte sich wohl nie eine solch dunkle Utopie ausgemalt, wie Jirgl sie nun in seinem Roman entwirft. Nach Jahrhunderten voller Grausamkeit und Kriegen um die erfolgreichsten Möglichkeiten zur Energiegewinnung herrscht auf der Erde Frieden. Die Menschen Zentraleuropas leben separiert auf ihrem Kontinent, unter einem künstlichen Himmel namens Imagosphäre und in einer Seinsweise, die an Schlaf eher erinnert denn an Leben. Doch der friedliche Schein trügt.

Die für die Erdbewohner „beste aller denkbaren Welten“ ist mitnichten das Ergebnis politischer Bemühungen oder gar menschlicher Einsicht. Vielmehr verdankt sie sich einem Unfall, der bei brutalen Experimenten am menschlichen Erbmaterial geschah. Das sogenannte „Detumeszenz“-Gen, das den Aggressionstrieb in sein Gegenteil verwandelt, gelangte nur durch Zufall vom Mond auf die Erde und verbreitete sich dort schnell.

Wie jeder gute Zukunftsroman verlängert auch Jirgls Buch die Strukturen und Möglichkeiten der gegenwärtigen in eine kommende Zeit. Dazu gehört vor allem ein Denken in Gegensätzen. So sieht die Lage auf dem Mars ganz anders aus als jene in Zentraleuropa. Schon vor Jahrhunderten haben alle selbst ernannten „Machtmenschen“ die Erde verlassen, um den roten Planeten zu besiedeln. Ihren Hang zu empathieferner Bürokratie und Forschung, ihre Gier und ihre Gewalt haben sie dabei nicht etwa überwunden, sondern ins Grenzenlose verstärkt. Die Marsianer leben in gigantischen Städten unter der Oberfläche. In vulkanische Höhlen sind mehrstöckige Behausungen eingelassen, verbunden durch Tunnel, die von Fernzügen und „Befördergondeln“ befahren werden. Die Berufe, Wohnhäuser und Vergnügungen sind, mit Musil gesprochen, „genau getrennt und nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen“.

Das eigentliche Labor befindet sich im Untergrund – genauer: in den Schichten des Mars. Dort hat man in Nischen, „aus der Entfernung klein wie Ameisen“, Tausende von Menschen gepfercht, deren einzige Funktion in Arbeit besteht. Wo sich von Lebensbedingungen nicht mehr reden lässt, ist alles der Maximierung von Gewinn geschuldet. Degradiert zum Material, sollen diese mit Dreckkrusten und Öl bedeckten Wesen in Bergwerken die Voraussetzungen für atembare Luft schaffen. Doch alle Pläne, eine erdgleiche Atmosphäre zu erzeugen, erreichen nicht ihr Ziel. So kehren die Machtmenschen auf die Erde zurück, um sie sich zu unterwerfen und ein letztes großes Projekt für den Mars zu starten.

Keineswegs linear hat Jirgl sein Buch aufgebaut. Stattdessen durchdringen sich hier ganz unterschiedliche Perspektiven und Erzählstränge, Zeit- und Sprachschichten. „Nichts von euch auf Erden“ ist weit mehr als Science-Fiction. Oder besser: Jirgl nimmt diesen Begriff in seiner vollen Wortbedeutung ernst. Er hat nicht einfach Welten für eine mögliche Zukunft entworfen, sondern genau in den verschiedenen Wissenschaften von der Biologie bis zur Physik recherchiert. So dockt er an gegenwärtige Ideen zu Umweltzerstörung, Computerisierung oder Gentechnik an und spinnt sie derart detailgenau fort, dass man als Leser bisweilen tatsächlich unter dem digitalen Schirm der Imagosphäre oder in den hoch technisierten Vergnügungsvierteln des Mars zu wandeln meint.

In seinem Innersten ist dieser Roman selber eine Art Forschungsstätte: eine für das Erzählen nämlich. Geschickt verbindet Jirgl Kapitel, die aus der Sicht der Marsbewohner gehalten sind, mit solchen, die sein junger Erzähler aus der Perspektive der befriedeten Erdbewohner erlebt. Und so, wie die Imagosphäre mit den Emotionen der Erdbewohner vernetzt ist, empfängt der Roman zahllose Impulse durch erzählerische Zukunftsentwürfe von Stanislaw Lem bis zu Douglas Adams. Noch stärker jedoch speist sich Jirgls Buch aus den kulturellen Speichern des Films. Ob es sich um Science-Fiction-Filme aus den 70er Jahren handelt oder um Hollywoodklassiker von „Total Recall“ bis „Avatar“ – Jirgl hat sie allesamt in seine Zukunftswelt eingeschmolzen. Und er zitiert sie nicht nur, sondern bedient sich ihrer Mittel, arbeitet mit harten Schnitten, Überblendungen und der Rückschau. Damit tritt dieser Roman in Konkurrenz zum Film. Und auch zu all den digitalen Möglichkeiten, die er so penibel beschreibt. Selbstbescheidung, wie sie die befriedeten Erdbewohner pflegen, ist Jirgls Sache nicht. Sein klarer Anspruch ist es, die Literatur zu behaupten. Und so springt er zwischen konkreten und abstrakten Sätzen, zwischen Anschauung und Begriff, wörtlichem und bildlichem Verständnis hin und her. Dazu erschafft er für seine Erd- und Marsbewohner eigene Redeweisen, die ihr unterschiedliches Denken und Fühlen abbilden.

Vor allem aber versieht er seinen erzählerischen Kosmos immer wieder mit Witz und Selbstreflexion. Am Ende spielt die Idee sogenannter „biomorphologischer Bücher“ eine nicht unbedeutende Rolle. Es sind Bücher, die mittels elektrischer Schaltkreise eine „auf=!direkte=Weise wirksame Sprache“ entwickeln. Ursprünglich dazu gedacht, die Biosphäre des Mars umzuschreiben, verselbstständigten sie sich und schreiben sich nunmehr selber fort. Wie eine Waffe wirken diese Bücher und erzeugen Risse im System. Und natürlich, so suggeriert der Text, könnten sie auch diesen Roman geschrieben haben. Aber der Eindruck täuscht, „Nichts von euch auf Erden“ ist noch viel stärker als jedes morphologische Buch. Denn Jirgls Roman entfaltet seine subversive Macht ganz ohne elektrische Schaltpläne. Allein durch die Kraft der Sprache und der Imagination.

Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden. Roman.

Hanser Verlag,

München 2013.

511 Seiten, 27,90 €.

Nico Bleutge

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