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Literatur: Als Sieger dring ich einst in euer Hirn

In einer Welt ohne Frauen: Ernst Osterkamp erforscht Stefan Georges „Neues Reich“.

Seit einigen Jahren erlebt ein großer, fast vergessener Dichter eine erstaunliche Renaissance: Stefan George, der als Ästhetizist und Erneuerer der deutschen Lyrik um 1900 begann und sich, umgeben von einem Kreis ihm ergebener junger Männer, zum poetischen Staatsgründer und Kritiker der Moderne wandelte. Im Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit hob die Neugier auf den früh gealterten, eisig von erlesenen Fotos blickenden Meister 2007 mit der vielbeachteten Biografie Thomas Karlaufs an, die durch freimütigen Umgang mit Georges lange tabuisierter Homosexualität einen Nerv traf.

Verblüffend war dann der Erfolg von Ulrich Raulffs jüngst mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter Studie „Kreis ohne Meister“, die aus einem Puzzle verblasster Lebensläufe rund um den Tod des von den Nazis umworbenen, 1933 aber stillschweigend in die Schweiz ausgereisten Dichters eine intellektuelle Gegengeschichte der Bundesrepublik entwarf.

Das Bedauerliche an der George-Renaissance war nur: Sie konzentrierte sich auf die Person des Autors, nicht auf sein Werk mit den sperrigen, von steilem Kunstwillen diktierten Gedichten Georges. Hier setzt nun der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Germanist Ernst Osterkamp mit seiner Deutung von Georges letztem Gedichtband „Das Neue Reich“ von 1928 ein. Am Beispiel einiger weniger tragender Gedichte erforscht der Autor die Denkfiguren, die sich in Georges Spätwerk immer aufs Neue in streng gebaute Verse verwandelt finden.

George verwirft darin mit harschen Worten die moderne Massengesellschaft, die in ihrer Fixierung auf Demokratie, technischen Fortschritt und Materialismus seinen Ekel erregt, und stellt ihr das Bild einer geistigen Elite entgegen, die sich dem „schönen Leben“ der Antike verpflichtet weiß, das heißt: sich der Vergottung junger Männerleiber widmet. Mit dem Kult um den verstorbenen Münchner Gymnasiasten Maximilian Kronberger hatte sich George um die Mitte seiner Jahre ein Idol geschaffen, unter dessen poetisch verklärten Stern er all sein „Sinnen und Fügen“ stellte.

Wie lückenlos Georges späte Gedichte aus dieser absonderlichen Konstruktion erschließbar sind, wie deutlich die Poesie hier von der Absicht gezeugt wird und daher zur Rhetorik erstarrt, zeigt Osterkamp in seiner akribischen, von genauer Werkkenntnis geleiteten Lektüre auf nahezu unerbittliche Weise – so, als wolle der Exeget, der vor Jahren eine eigene George-Auswahl vorgelegt hat, sich selbst und allen, die doch noch Faszinierendes an diesen Gedichten finden, endgültig die Augen öffnen. Dies gelingt allerdings nur deshalb, weil er sich auf Gedichte Georges konzentriert, die dieser zwar selbst sehr wichtig nahm, die aber keinesfalls zu seinen besten zählen.

Zunächst beleuchtet Osterkamp, wie sich George im Gedicht „Der Gehenkte“ als grimmiger Außenseiter inszeniert, der die Gesellschaft, die über ihn das Urteil sprach, dereinst noch heimsuchen wird: „Als sieger dring ich einst in euer hirn/Ich der verscharrte ...“ Sodann dekonstruiert er die Rollenfiktionen, durch die sich George in der Nachfolge Goethes und Hölderlins zum Dichter des neuen Jahrhunderts stilisiert, der den Deutschen erst den wahren Sinn jener Neuentdeckung des Griechentums enthüllt, um die sich ihre Klassiker bemühten.

So wandelt er in „Goethes letzte Nacht in Italien“ keineswegs auf den Lebensspuren des nach Weimar heimkehrenden Olympiers, sondern lässt einen recht unwahrscheinlichen Goethe an nächtlichem Gestade ein vom Sternenhimmel und Georges seherischem Geist beseeltes Männerpaar erblicken.

Besonders eindrucksvoll ist Osterkamp die Deutung des Zyklus „Hyperion“ gelungen, bei der er bis in die Wahl des Versmaßes hinein Georges egozentrisches Geschichtsbild aufdeckt, das noch die Schau von Hölderlins „kommendem Gott“ dem eigenen erotischen Blick unterwirft. Im Zyklus „An die Kinder des Meeres“ letztlich entdeckt Osterkamp drei von Georges realen Stundengöttern – Huldigungen an perfekte Jünglingsleiber, deren Anblick dem Meister seine alten Tage erhellte.

Worauf all dies hinausläuft, liegt auf der Hand: Georges „Neues Reich“ ist eine Welt ohne Frauen und schon deshalb keine fruchtbare Vision. Es ist vielmehr, um es mit Versen von Rilke zu sagen, „ein Tanz von Kraft um eine Mitte,/in der betäubt ein großer Wille steht.“ Dass diese Mitte der georgeschen Poesiereligion leer ist, dass sich sein Vermächtnis aus lauter Tautologien zusammensetzt, weil die Gedichte den Beweis für eine Welt antreten sollen, die es außerhalb dieser Gedichte gar nicht gibt, legt Osterkamps Studie einleuchtend dar.

Man darf nur hoffen, dass sie das Tor für eine Neuentdeckung von Georges Lyrik, das sie doch gerade öffnen will, nicht gleich wieder verschließt – denn für die gedeuteten Texte einnehmen will und kann diese auf Entzauberung zielende Lesart nicht. Dass sich aber im Werk Georges, besonders in den frühen Bänden und noch in den späten „Liedern“ des „Neuen Reichs“, die Osterkamp nur streift, schlichtweg schöne, durch keine Deutung zu erledigende Versgebilde finden, ist vielleicht die nächste Meldung, die uns die George-Renaissance noch bringen wird.

Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich. Hanser Verlag, München 2010. 292 S. 19, 90 €.

Norbert Hummelt

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