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Literatur: Die Nacht, die alles ändert

In seinem subtilen Roman "Julia" beschreibt Otto de Kat die Liebe in den Zeiten der Nazis – und aus Sicht eines Holländers.

Ein Mann sitzt in der Nacht allein in seinem Haus. Der ältere Herr denkt sein Leben noch einmal, zieht Bilanz. Freundlich fällt sie nicht aus, vor allem nicht sich selbst gegenüber. Am Nachmittag des folgenden Tages findet ihn der Chauffeur: „Seine Hand lag auf der Schwelle, die Tür stand halb offen. Weiß und alt war er, mitten im Sommer.“ Christiaan Dudok, so heißt der Mann, ein erfolgreicher Unternehmer, hat sich mit Hilfe eines Tablettencocktails das Leben genommen. Auf seinem Schreibtisch findet man einen Ausriss aus dem Lübecker Generalanzeiger vom April 1942; einige Namen auf der Titelseite sind angestrichen. Niemand kann sich erklären, was es damit auf sich hat.

Im Normalfall ist absolute Vorsicht geboten vor Romanen (oder auch Filmen), die vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus eine Liebesgeschichte zu erzählen versuchen – nicht selten wird die historische Situation bloß als interessanter Dekor missbraucht. Im Fall von „Julia“, dem dritten Roman des 1946 geborenen holländischen Autors Otto de Kat, der unter Pseudonym schreibt und im Zweitberuf einen Sachbuchverlag leitet, verhält sich das anders: De Kat geht es nicht um eine opulente, griffige Story; er zeichnet vielmehr mit feinen Strichen das Psychogramm eines Mannes, der weder mit seinen Schuldgefühlen noch mit dem zentralen Verlust seiner Biografie zurande kommt. De Kat beherrscht, das hat er bereits mit seinen beiden vorangegangenen, ebenfalls schmalen Romanen unter Beweis gestellt, die Kunst des verdichteten Erzählens auf engstem Raum. Auch in „Julia“ wechseln die Zeit- und Raumebenen zwischen den Niederlanden des Jahres 1981 (der Romangegenwart also), dem Deutschland unter Hitler und der Zeit dazwischen, in denen Dudok die väterliche Maschinenfabrik wiederauf- und zu einem florierenden Betrieb ausbaut.

Der Vater ist es auch, der Chris im Jahr 1938 nach Lübeck schickt, um sich dort bei einer Art von Praktikum auf seine zukünftige Aufgabe als Firmenleiter vorzubereiten; eine Aufgabe, die in dem belesenen Chris Dudok Panikanfälle hervorruft: „Wenn er sich vorstellte, dass er Nietzsche gegen die Wirtschaftsseiten der Zeitungen würde eintauschen müssen, hatte er das Gefühl zu ersticken.“ Doch der Vater, so heißt es aus der Heimat, sei erkrankt; die Übergabe der Firmengeschäfte an Chris nur noch eine Frage der Zeit. Gleichzeitig lernt Dudok Julia kennen, eine Ingenieurin, in die er sich im Handumdrehen verliebt. Julia ist so etwas wie die Idealgestalt des deutschen Widerstandes: klug und hellsichtig, mutig und realistisch zugleich. Schon im Jahr 1938 ahnt sie die Massenvernichtung in den Konzentrationslagern voraus. Als ihr Bruder, ein Schauspieler, eine Aufführung zu einer Demonstration gegen das Regime nutzt, gerät auch sie in Schwierigkeiten. Ihr Chef entlässt sie wegen kommunistischer Umtriebe. Dass in Wahrheit alles ganz anders war, erfährt Chris erst, als es zu spät ist.

Chris und Julia verbringen eine gemeinsame Nacht; dann schickt sie ihn fort, zurück in die Heimat, um ihn außer Gefahr zu bringen. Dort heiratet Chris aus Vernunftgründen; eine sachliche und kühle, ganz bewusst kinderlos gehaltene Ehe, die unter dem Trauma von Chris’ Schuldgefühlen leidet: Hätte er bleiben sollen? Hätte er Julia helfen, sie gar retten können oder müssen? Was aus ihr geworden ist, weiß Chris lange Zeit nicht.

All diese Verschiebungen und Deformationen inszeniert Otto de Kat auf wohltuend dezente Weise, wie auch der Nationalsozialismus selbst als eine ganzheitliche Bedrohung erscheint. Auf die konkrete Manifestation in reißerischen Einzelszenen verzichtet „Julia“: Dieser subtile Roman ist kein Kopfkino, sondern ein psychologisch packendes Nachtstück, das sich nicht scheut, große Begriffe wie „Seele“ zu verwenden (an deren Existenz zu glauben der philosophisch geschulte Dudok zunächst nicht gewillt ist), ohne pathetisch zu werden.

Kern des Romans ist die Analogie zwischen Dudoks privater Schuld (durch Versäumnis) und der der Mehrheit der Deutschen gegenüber dem Nationalsozialismus (durch Ignoranz, Untätigkeit). Insofern ist „Julia“ nicht nur ein Roman über verpasste Gelegenheiten, sondern auch der so gewagte wie gelungene Versuch, aus der Außenansicht ein deutsches Buch und ein Buch über Deutschland zu schreiben. De Kats Stärke ist dabei wie stets eine durchaus nicht außerliterarische Begabung – man könnte sie Menschlichkeit nennen.

— Otto de Kat: Julia.

Roman. Aus dem Niederländischen von

Andreas Ecke. Insel Verlag, Berlin 2010, 168 Seiten, 19,80 €.

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