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Recherchieren, recherchieren. Und dann imaginieren. Der amerikanische Schriftsteller Richard Price, 60. Foto: dpa

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Literatur: Ich bin süchtig nach Wirklichkeit

Nachrichten von der Lower East Side: Begegnung mit Richard Price, dem Autor des New-York-Thrillers „Cash“.

Zwischen dem Schauplatz von „Cash“ an Manhattans Lower East Side und dem Haus von Richard Price in Harlem liegen ungefähr zehn Kilometer. Es könnten auch zehn Galaxien sein. Zwar hat das Harlem von heute nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem schwarzen Slum, in dem ein Weißer noch vor 15 Jahren kaum lebendig vom Ende eines Blocks zum anderen gekommen wäre. Doch anders als an der Lower East Side sind hippe Bars, Edelboutiquen für Flohmarktkitsch und Rudel junger Menschen mit interessanten Brillen und komplizierten Weltanschauungen hier noch rar.

„Die Gentrifizierung ist eine zweischneidige Angelegenheit“, sagt der 60-jährige Schriftsteller, während er in eine turnhallengrosse Wohnküche im Untergeschoss führt, die auf einen kleinen Garten hinausgeht. „Niemand will Drogen und Gewalt in einem Quartier. Aber die Armen verschwinden nicht einfach, wenn der Wohlstand Einzug hält. Es ist, als würde man ohne Kehrschaufel sauber machen.“ Eben davon handelt Richard Prices Roman (S. Fischer Verlag, 19,95 €, Tagesspiegel vom 22.5.): von der Kollision gesellschaftlicher Kosmen und dem Staub, der dabei aufgewirbelt wird.

Ike, Anfang zwanzig, weiß, mit College-Abschluss und netten Eltern, einer jener hoffnungsvollen Barkeeper, die eigentlich Künstler sind, wird bei einem aus dem Ruder gelaufenen Raubüberfall an der Lower East Side erschossen. Der Täter, Tristan, ist ein schwarzer Teenager aus den Sozialsiedlungen am östlichen Rand der Lower East Side. Er kennt die Hoffnung nicht einmal dem Namen nach.

„Es ist wie ein Verkehrsunfall“, sagt Richard Price, „denn im Alltag berühren sich diese sozialen Realitäten kaum: Die Szenegänger bilden eine vollkommen in sich geschlossene Gesellschaft, ebenso die Schwarzen und Latinos aus den Siedlungen.“ Daneben, erklärt er, gibt es die chinesischen Einwanderer, einen kleinen Rest orthodoxer Juden, und alle würden sich gegenseitig wie Luft behandeln, wenn sie einander mittags auf der Strasse begegnen. „Mich hat die Koexistenz dieser Welten interessiert“, sagt Price. „Kein anderes Quartier New Yorks illustriert das Funktionieren solcher Parallelwelten im Augenblick so deutlich wie die Lower East Side – bis es eben zu einem Zusammenstoß kommt."

Man hat Richard Price einen Meister des urbanen Thrillers genannt. Tatsächlich gibt es in „Cash“ einen Toten, einen Mörder und eine Menge Polizisten. Doch für den Thrill dieses fast dokumentarisch wirkenden Romans sorgt nicht die Mörderjagd. Man ist neugierig auf die Figuren. Wie er Wirklichkeit verarbeitet, hat überdies nichts Journalistisches. „Ich will, dass meine Bücher komponiert wirken“, sagt er, „dass sie wie Jazz klingen, nicht, als wäre ich ein Holzhacker der Wirklichkeit.“

„Cash“ ist bereits sein achter Roman, aber der erste, der hierzulande als Literatur wahrgenommen wird. Prices Debüt, „The Wanderers“ (Scharfe Zeiten), erschien 1974 und war eine Sensation. Da hatte man einen Autor, der packend über das Erwachsenwerden in der Bronx schrieb und dort selber erwachsen geworden war. „Man erwartete von mir, dass ich mit Pistole und Messer zu Lesungen erschien“, erinnert sich Price. „Dabei versuchte ich den Leuten klarzumachen, dass ich aus einer soliden Familie stammte, gute öffentliche Schulen besucht und an der Columbia University Literatur studiert hatte.“

An den Erwartungen der Leute änderte sich nichts. Price schrieb drei weitere autobiografische Romane, die nun mal nicht an der Upper East Side spielten, sondern in Arbeiterghettos. Dann ging ihm der Stoff aus: „Um diese Romane zu schreiben, brauchte ich nicht ein einziges Mal meinen Schreibtisch zu verlassen. Das Material war mein Leben, aber dazu fiel mir nichts mehr ein.“

Also fing er an, Drehbücher zu schreiben. Auf seinen Manuskripten basieren Filme wie Martin Scorseses „The Color of Money“ und „Ransom“. Auch an der mit Preisen überhäuften HBO-Fernsehserie „The Wire“ hat er mitgearbeitet. „Drehbuchschreiben ist verführerisch“, sagt Price. „Es ist nicht ganz so zermürbend wie das Schreiben von Romanen, und man verdient viel mehr Geld damit.“

Allerdings sieht sich Price in erster Linie als Schriftsteller. Dass er einer ist, bewies er 1992 mit seinem Comeback-Roman „The Clockers“ (Söhne der Nacht) – wieder keine Idylle. Price lieferte Blut, Drogen und Menschen dies- und jenseits der Legalität. Für diesen Roman hatte Price recherchiert – und wie. Wochenlang war er mit Polizisten durch die heruntergekommensten Gegenden New Jerseys gezogen: „Die Polizei verfügt über einen Freipass hinter die Bühne des Lebens“, sagt Price. „In ihrer Begleitung kommt man an Orte, von deren Existenz man nichts geahnt hat. Man gerät in Situationen, die man nicht erfinden kann.“

Auch für „Cash“ ist Price wieder mit Polizisten herumgezogen: „Jane Austen brauchte nicht mit unausgeschlafenen Cops und kleinen Dealern herumzuhängen“, sagt er, „aber ich bin inzwischen süchtig nach dieser Art, ein Stück Welt in meine Romane zu holen.“ So süchtig, dass er sich davon nur zu gern vom Schreibtisch fernhalten lässt. Denn Schreiben empfindet Richard Price als Qual. „Dummerweise“, seufzt er, „treibt mich aber diese verfluchte jüdäo-christliche Arbeitsethik. Ich will ein fleißiger guter Mensch sein.“ Mit „Cash“ zeigt er, dass man mit diesem schlechten Gewissen eine Menge erreichen kann.

Sacha Verna

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