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Literatur: Reales Märchen: Annika Scheffels „Ben“

Bezaubernd macht das Annika Scheffel, und sie braucht auch gar nicht viel dafür: einen jungen Mann, seine Liebe, seine Eltern, seinen besten Freund, den Postboten.

Dazu eine Wohnung mit dunklem Gang, ein Fahrrad, ein Krankenhaus, eine Insel, das Meer – was so wenig auch wieder nicht ist, aber es klingt so, weil von all dem in einer eigenartigen, eigenwilligen, eigensinnigen Sprache erzählt wird, so zum Beispiel: „Es gab eine Zeit, da war nichts auf der Welt, nur Menschen, Natur, die eine Landschaft war, Straßen, Häuser, Autos auf den Straßen, auch Tiere drum herum und darauf. Und er lebte auch auf dieser Welt, wie man das so macht, wenn man nicht stirbt. Es ist nicht schwierig, den meisten Menschen geschieht es einfach so.“

Einfach so ist da lange nichts. Auch wenn Scheffel den Kinderbuchton kunstfertig und mit Raffinement einsetzt, den Anschein des Einfältigen nutzt, um die Vielfalt des Lebens durchschimmern zu lassen, so bleibt sie doch immer als Erzählerin spürbar, die die Fäden ihrer Geschichte souverän in den Händen hält. Vielleicht hat sie auf diese Art das schönste Kinderbuch für Erwachsene seit Langem geschrieben. Und wie es sich für Kinderbücher gehört: Die Geschichte ist immer überschaubar und geheimnisvoll zugleich, sie braucht keine Psychologie und bleibt trotzdem glaubhaft, und es geht immer um alles. Hier vor allem um Ben, der mit seinem besten Freund in der Wohnung mit dem langen dunklen Gang wohnt, den sie zum Beispiel entlanggehen müssen, wenn es an der Wohnungstür klingelt. Eines Tages fällt Ben über einen Wäscheständer, holt sich eine Gehirnerschütterung und kommt ins Krankenhaus. Dort zieht es ihn zu Lea, von der er nicht nur weiß, dass sie mit seinem besten Freund zusammen ist. Ben weiß, dass sie bald sterben wird, und er weiß auch, dass das etwas mit ihm zu tun haben wird.

Also versucht er sich von ihr fernzuhalten, eben weil und obwohl er sie liebt, so sehr, dass er darüber fast den Verstand verliert und sich selbst dazu. Darum tritt hier auch der Tod auf, der sich zwar dann eine andere holt, aber bedrohlich im Hintergrund lauert. So wundert es nicht, dass in der Mitte des Buches alles endgültig ins Märchenhafte zu kippen scheint, selbst wenn es heißt: „Aber das hier ist kein Märchen, das ist real, das wurde ihm versichert, das weiß er selbst.“

Ein Buch wie dieses aber lebt geradezu von den Übergängen zwischen dem Allerweltsrealen und der Realität, die es sich selbst erschafft und in die sich der Leser durch den sirenenhaften Märchenton hineinziehen lassen muss, wenn er nicht außen vor bleiben will. Von dort aus aber kann man ein leises Murren und die Frage vernehmen, um was es hier eigentlich gehe? Solchen Skeptikern ruft man am besten zu: ums Erzählen selbst. Um was denn sonst? Und das kann Annika Scheffel ganz bezaubernd.

Annika Scheffel:

Ben. Roman. Verlag

Kookbooks, Idstein, Berlin 2010.

269 S., 19, 90 €.

Jochen Jung

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