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Waffennarr. Karl-Heinz Kurras. Foto: ddp

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Literaturkritik: Kein Agent provocateur

"Die Stasi und der Westen": Autor Sven Felix Kellerhoff über die Stasi, den Westen und den "Kurras-Komplex"

Einen Komplex kann man – wie Stefan Aust es mit dem Baader-Meinhof-Komplex getan hat – in Szene setzen. Oder man kann ihn haben. So wie Sven Felix Kellerhoff, der uns mit dem „Kurras-Komplex“ die Geschichte der Bundesrepublik neu erklären will. Die Enttarnung des West-Berliner Polizisten als Stasi-Agent sei der letzte Beweis, dass die alte Bundesrepublik „umfassend unterwandert“ war. Mehr noch: „Von den 50er Jahren an bestimmte das Ministerium für Staatssicherheit und sein Auftraggeber, die SED, die Politik der Bundesrepublik wesentlich mit.“

Der Buchautor und Leitende Redakteur im Axel-Springer-Verlag scheint ernsthaft zu glauben, was er so vollmundig unterstellt. Dabei hat die Staatssicherheit der DDR soweit bekannt nur zweimal in der Geschichte der Bundesrepublik wirklich Schicksal gespielt: Beim – dank ihres Stimmenkaufs erfolglosen – Misstrauensvotums gegen Willy Brandt 1972 und bei seinem Rücktritt 1974 wegen der Spionage-Affäre Guillaume. Doch nicht einmal da hat die Stasi triumphiert, sondern sich ins eigene Fleisch geschnitten.

Ähnlich lagen die Dinge mit Kurras, denn der erfolgreiche Agent musste nach dem Todesschuss auf den Studenten Ohnesorg abgeschaltet werden. Kurras war keineswegs ein Agent Provocateur, der die Studenten auf die Barrikaden treiben sollte, sondern nach Aktenlage der Staatssicherheit ein Waffennarr, dem die Nerven durchgegangen waren. Sein Führungsoffizier wertete die Tat als „sehr bedauerlichen Unglücksfall“, durch den die Stasi ihre wichtigste Quelle in der West-Berliner politischen Polizei verlor. Kellerhoff verwendet ein Drittel seines Buches darauf, die kürzlich aufgefundene Stasi-Akte des IM „Otto Bohl“ alias Karl-Heinz Kurras aufzublättern, ohne etwas anderes dartun zu können.

Fast ebenso ausführlich befasst er sich für seine These einer „umfassenden“ Unterwanderung mit dem Republikanischen Club, dem (West-) „Berliner Extrablatt“ und „Extradienst“ der Außerparlamentarischen Opposition, deren Spiritus Rector der Journalist Walter Barthel als IM „Kurt“ der Staatssicherheit gewesen sei. Doch Kellerhoff muss selber zugeben, dass Barthel dabei gegen Weisungen seines Führungsoffiziers handelte, der ihn für „undurchsichtig“ hielt und deswegen den Kontakt zu ihm unterbrach. Inzwischen ist auch bekannt, dass Barthel ebenso wie sein Mitstreiter, der Journalist und spätere Mannheimer Professor Dietrich Staritz als Doppelagent für den Verfassungsschutz tätig war. Wer da wen unterwandert hatte, werden wir erst wissen, wenn auch dessen Akten veröffentlicht werden.

Dass im „Extra-Dienst“ – dessen Lesern und Mitarbeitern Kellerhoff großzügig Unwissen über dessen Funktion als „Stimme Ost-Berlins im Westen der Stadt“ bescheinigt – auch gegen den sowjetischen Einmarsch in Prag, Biermanns Ausbürgerung, die Verhaftung von Jürgen Fuchs und Rudolf Bahro protestiert wurde, zeigt eher die Grenzen der Einwirkungsversuche durch die Staatssicherheit. Selbst wo sie viel Geld in die Hand nahm, wie bei der Anschubfinanzierung für die Zeitschrift „Konkret“ – glitt ihr die Regie aus den Händen, als sich Klaus Rainer Röhl selbstständig machte. In der Presselandschaft der Bundesrepublik spielten beide Blätter ohnehin nur eine marginale Rolle. Bei wirklich einflussreichen Medien hatten die Desinformationskampagnen der Stasi nur ausnahmsweise – etwa beim „Stern“ – Erfolg. ARD und ZDF, die ihre mögliche Unterwanderung mithilfe der Birthler-Behörde untersuchen ließen, erwiesen sich als weitgehend resistent.

Bleiben ein paar prominente Agentenfälle, deren politisches Gewicht eher zweifelhaft sind. Markus Wolfs Top-Agent in der FDP, William Borm, durfte zwar einmal als Alterspräsident den Bundestag eröffnen; aber in seiner Rede, die angeblich Markus Wolf persönlich verfasst hatte, konnte er nur „in aller Deutlichkeit und sehr scharf zum Ausdruck bringen, dass nach dem Willen aller Berliner im freien Teil dieser Stadt wir unverbrüchlich dem Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland angehören“. Wolfs zweitem Mann in der FDP, dem Fotounternehmer Hannsheinz Porst, konnte der Bundesgerichtshof keinen Geheimnisverrat nachweisen; die „landesverräterischen Beziehungen“, wegen denen er verurteilt wurde, hatte er nicht einmal vor seiner Sekretärin verheimlicht. Wolf nannte ihn deswegen mit Recht „naiv“. Wolfs Agenten in anderen Parteien mögen weniger naiv gewesen sein, deswegen kann über ihre Zahl nur spekuliert werden. Kellerhoff ist aber zuzustimmen, dass Bundestag und Parteien wenig unternommen haben, ihre eigenen Reihen aufzuklären.

Nicht fehlen darf auch bei ihm der Baader-Meinhof-Komplex: Kellerhoff weiß zwar, dass „das MfS die RAF und ähnliche Gruppierungen weder befehligt noch gesteuert“ hat, aber es trifft ja zu, dass sie dort bei Bedarf Transit und Zuflucht vor Strafverfolgung erhielten. Als „Feind des Feindes“ waren sie in der DDR genauso willkommen wie der Studentenprotest gegen den Berliner Senat nach dem 2. Juni und der „antiimperialistische Kampf“ gegen den Vietnamkrieg. Ergo: „Der 2. Juni 1967 stand am Anfang des deutschen Linksterrorismus, und mit ihm die Stasi, wenngleich eher ungewollt.“ Sie hatte halt auch ihren Kurras-Komplex.

Sven Felix

Kellerhoff:

Die Stasi

und der Westen.

Der Kurras-Komplex. Hoffmann & Campe, Hamburg 2010.

352 Seiten, 23 Euro.

Hannes Schwenger

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