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Vor dem Lieblingsteehaus. Mo Yan in Peking. Am 7. Dezember hält er in Stockholm seine Nobel Lecture.

© PANOS/VISUM

Literaturnobelpreisträger Mo Yan: Wahre Kunst dient keinem Herrn

Selbst in undemokratischen Gesellschaften haben Künstler nicht nur die Wahl zwischen Staatsdienst und Märtyrertum: Die chinesische Schriftstellerin und Filmemacherin Xiaolu Guo plädiert für einen differenzierten Blick auf das Werk des Literaturnobelpreisträgers Mo Yan.

Im Februar 2010, ein gutes Jahr vor seiner Emigration nach Berlin, schrieb der dissidentische Schriftsteller Liao Yiwu aus Chengdu, der Hauptstadt von Sichuan, in einem offenen Brief an Angela Merkel: „Sie sind deutsche Kanzlerin und wissen aus eigener Erfahrung, was Diktatur bedeutet – vielleicht wurden auch Sie mit Füßen getreten, vielleicht wurden auch Sie gedemütigt, vielleicht wurde auch Ihre Freiheit eingeschränkt. Sie waren 35 Jahre alt, als die Berliner Mauer fiel – im gleichen Jahr, am 4. Juni 1989, ich war 31, ereignete sich das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Noch am gleichen Abend habe ich das lange Gedicht ,Massaker’ geschrieben und vorgetragen, weshalb ich festgenommen wurde und für vier Jahre im Gefängnis saß.“

Verständlich, dass Liao Yiwu sich über den „Staatsschriftsteller“ Mo Yan beschwerte, als dieser in derselben Oktoberwoche, in der er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten sollte, den Nobelpreis zugesprochen bekam: „Ich fühle mich vor den Kopf gestoßen, für mich ist das wie ein Schlag ins Gesicht ... Mo Yan ist ein Staatsdichter.“

Das Leiden von Künstlern im postmaoistischen China kann man nicht ohne Blick auf andere prominente Fälle untersuchen: auf Jafar Panahis Inhaftierung im Iran, auf die Fatwa gegen Salman Rushdie oder die Klage wegen Herabsetzung des Türkentums, die Orhan Pamuk nach seinen Äußerungen über Kurden und Armenier galt. In manchen Gesellschaften wird der Künstler als Kritiker bestraft. Deshalb finden im Westen zunächst oft Dissidenten Beachtung und dann erst „Staatskünstler“. Doch versteht es sich nicht von selbst, dass Künstler und Intellektuelle immer eine komplexe Beziehung zu dem Staat eingehen, in dem sie aufgewachsen sind, bis dieser eines Tages womöglich beschließt, sie als ideologische Feinde hinzustellen? Kann man in einer Gesellschaft überhaupt auf Dauer staatenlos bleiben? Wenn ja, warum entschied sich Alexander Solschenizyn, nachdem er jahrzehntelang im Westen gelebt hatte, mit 75 Jahren nach Russland zurückzukehren?

Zu einer Zeit, da Staat und Kirche noch eins waren, standen Künstler wie Michelangelo, Leonardo da Vinci oder Jan van Eyck unter der Patronage mächtiger Fürstenhauser und ließen sich für deren Zwecke einsetzen. Auch ein Künstler im heutigen Konzernkapitalismus kann ein Komplize der Macht sein. Ich habe große Achtung vor Liao Yiwu und seiner kompromisslosen Haltung als politischer Intellektueller. Aber seine Kritik am Nobelpreis für Mo Yan kann ich nicht teilen.

Als China 2009 Gastland der Frankfurter Buchmesse war, maßten sich einige westliche Literatursnobs an, das Werk der eingeladenen Staatsautoren zu beurteilen. Damals konnten die meisten von ihnen Mo Yans Hyperrealismus von Wang Mengs sozialem Realismus nicht unterscheiden. Diese Unfähigkeit hat mit der westlichen Ignoranz gegenüber der asiatischen Literatur zu tun und dem tiefen Mangel an Wissen über eine Kultur, deren Sprache nicht auf dem lateinischen Alphabet beruht.

Wer sind die Pendants zu Hemingway, Joyce oder Austen im Osten?

Wenn wir noch im Kalten Krieg leben würden, könnte man das der ideologischen Opposition gegenüber dem Ostblock anlasten. Doch heute weiß der Westen immer noch mehr über seine zweitklassigen Literaten als über die erstklassigen außerhalb Europas. Wer sind die Pendants zu Hemingway, Joyce oder Austen im Osten? Wie viele Jahre müssen noch vergehen, bis es im Westen gelingt, drei Namen chinesischer Schriftsteller zu nennen, ohne sie vorher zu googeln? Oder wird die kapitalistische Monokultur alles verschluckt haben, bevor diese Schriftsteller überhaupt jemals bekannt sind?

Ein großer Staatskünstler kann genauso außergewöhnlich sein wie ein dissidentischer. Nehmen wir den Komponisten Dmitri Schostakowitsch. Obwohl er ein spannungsreiches Verhältnis zu Stalins Regime unterhielt, diente er dem Obersten Sowjet der Russischen Sozialistischen Föderative Sowjetrepublik und der UdSSR bis zu seinem Tod. Um Staatskünstler zu bleiben, versuchte er nach dem Komponieren seiner vierten Symphonie, die offiziell dem Bann des „Formalistischen“ unterlag, als öffentliche Person so unsichtbar wie möglich zu bleiben und komponierte 1937 seine fünfte Symphonie. Verglichen mit früheren Werken galt sie zunächst als konservativ. Doch ihre vieldeutige Schönheit rührte ein Leningrader Publikum, das im Zweiten Weltkrieg Familienangehörige verloren hatte, zu Tränen. Schostakowitsch war wieder in der sowjetischen Kulturlandschaft verankert. Zwar wird immer wieder die naturwüchsige Kreativität eines Künstlers von Staatsmacht und Zensur beschädigt. Aber es stimmt einfach nicht, dass ein Künstler in einer totalitären Gesellschaft nur die Wahl zwischen künstlerischem oder persönlichem Selbstmord und politischem Martyrium hätte.

Wenn man nun Mo Yan betrachtet, hat er sowohl für sein Epos „Das rote Kornfeld“ wie für „Der Überdruss“, den fantastisch-historischen Bericht über die Folgen von Maos Landreform, den Nobelpreis verdient. Sein ganzes Werk ist eine literarische Universität, die man besuchen kann, um Chinas jüngste Geschichte zu studieren. Nicht nur Liao Yiwu, auch andere Aktivisten zürnen der Stockholmer Akademie, die Mo Yan die Auszeichnung am 10. Dezember übergibt. Aber, so erklärte er Reportern in Shandong: „Diejenigen, die mich kritisiert haben, haben meine Bücher nicht gelesen. Wenn sie meine Bücher gelesen hätten, würden sie verstehen, dass mein Schreiben einmal äußerst risikoreich war. Viele von denen, die mich kritisierten, sind nun selbst Mitglieder der KP. Sie arbeiten innerhalb des Systems. Ich schreibe in einem China unter kommunistischen Parteiführern. Aber mein Werk lässt sich von Parteien nicht einengen.“ In einer Ansprache verlieh Mo Yan denn auch seiner Hoffnung Ausdruck, dass der inhaftierte Dichter Liu Xiaobo, der 2010 zum Entsetzen des chinesischen Staates den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam, bald aus dem Gefängnis entlassen werde.

Yan hat seine literarischen Stärken bewahrt, statt sich öffentlich zu verbrennen.

Auch Yan Lianke, einer der besten zeitgenössischen Schriftsteller, lässt sich weder den Dissidenten noch den Staatshörigen zuschlagen. Mit seinem in der Henan-Provinz angesiedelten Aidsroman „Der Traum meines Großvaters“ machte er sich auch in Deutschland einen Namen. Der auf wahren Geschehnissen beruhende Roman erzählt vom langsamen Tod chinesischer Bauern, die sich durch illegalen Blutkonservenhandel mit HIV infiziert haben. Yan ist ein typischer Fall: Einerseits geriet er damit auf den Index, andererseits erhielt er die höchsten offiziellen Auszeichnungen, darunter den Lu- Xun-Preis. Schon sein früher Roman „Dem Volke dienen“ über eine wilde Affäre zwischen einem Soldaten und der Frau seines Divisionskommandeurs hatte dazu geführt, dass der Staat 30 000 Exemplare konfizieren ließ. Das Großartige ist aber, dass Yan Literaturprofessor an der Pekinger Volksuniversität geblieben ist. Er hat seine literarischen Stärken bewahrt, statt sich öffentlich zu verbrennen. Ein Fall von Schostakowitsch.

Die chinesische Ausgabe seines satirischen Romans „Shou Huo“ (in bisher nur auf Englisch vorliegender Übersetzung: „Lenin’s Kiss“) rundet ein Essay ab, in dem es heißt: „Ein geschmackloser Realismus hat die Kunst vergewaltigt, die Literatur vergewaltigt, unsere Leser vergewaltigt.“ Der letzte Satz lautet: „Wir sollten Realismus als den Friedhof unseres Schreibens behandeln, und wenn meine Bücher Teil der Grabbeigaben sein könnten, wäre ich stolz über meinen Beitrag zur Literatur.“ Yan Liankes Perspektive erinnert mich an Bulgakows „Meister und Margarita“. Ohne dessen allegorische Schichten wäre Bulgakow wohl nur ein zweitklassiger Autor wie Nikolai Ostrowski, dessen dem sozialistischen Realismus verpflichtetes Werk: „Wie der Stahl gehärtet wurde“ wir in unserer Schulzeit mit schmerzvollem Eifer studierten.

Wahre Kunst findet jenseits eines solchen Realismus statt. Sie spielt sich jenseits von definierbarer Zeit und definierbarem Ort ab. Und jenseits von Dissidenz. Das sollte unser Motto sein. Denn liegt uns mehr an der Person eines Künstlers oder an der Kunst, die er herstellt? Wenn Kunst umfassender als das Menschliche ist, dann kann der Künstler als bloßes zoon politikon hinter seiner Kunst verschwinden.

Kehren wir zurück zu Liao Yiwus Brief an Angela Merkel. Darin zitiert er seinen Freund Liu Xiaobo mit den Worten: „In dieser Welt der Klugen sind wir beide, du und ich, die Dummköpfe, wir sollten wie im alten Europa in einem ,Narrenschiff’ auf die weite See hinaustreiben und dort, wo wir zuerst landen, soll unsere Heimat sein.“ Wir bestimmen also nicht über unser Schicksal, das sich jenseits politischer Kämpfe und spezifischer historischer Bedingungen abspielt. Aldous Huxley bringt dies auf die betörende Formel: „Ich bin nicht der Kapitän meiner Seele; ich bin nur ihr lautester Passagier.“ Xiaolu Guo

Die Autorin Schriftstellerin und Filmemacherin, sie wurde 1973 in Südchina geboren und lebt seit 2002 in London. Zuletzt war sie Stipendiatin des DAAD in Berlin.

Aus dem Englischen von Gregor Dotzauer.

Xiaolu Guo

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