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Das Cover des umstrittenen Buches.

© Liveright

Literaturwissenschaftler Paul de Man: Größenwahnsinn und Methode

War er ein Krimineller oder schlicht ein Hasardeur? Über die abenteuerliche Vergangenheit des Literaturwissenschaftlers Paul de Man.

Von Gregor Dotzauer

Er konnte von Glück reden, dass sein ältester Sohn in ihm nicht mehr als einen hochstaplerischen Felix Krull sehen wollte. Denn im Gefolge seiner Flucht aus Belgien nach New York 1948 hatte Paul de Man die beiden jüngeren Brüder glattweg verraten. Zusammen mit seiner ersten Frau Anaide ließ er sie nach Argentinien ziehen, ohne ihnen jemals wieder einen gedeckten Scheck zukommen zu lassen. Hendrik, den Ältesten, hatte er nur verkauft. Er brachte ihn in Virginia bei den Eltern seiner zweiten Frau Patricia unter, die er 1950 geheiratet hatte, ohne geschieden zu sein. Die neuen Schwiegereltern adoptierten Hendrik schließlich, während er mit Patricia noch zwei weitere Kinder bekam.

Zu dieser Zeit war er noch längst nicht der weltberühmte Literaturwissenschaftler, als der er in den 70er Jahren an der Yale University in New Haven, Connecticut, Furore machte. Paul de Man, 1919 in Antwerpen geboren, war als Journalist gescheitert. „Le Soir“, ein mit den Nazis kollaborierendes Brüsseler Blatt, für das er bis 1942 teils offen antisemitische Kolumnen schrieb, hatte ihn gefeuert. Er war nach dem Krieg als Gründer des Kunstbuchverlags Hermès gescheitert. Das von Freunden und Familie geliehene Geld wirtschaftete er teils in die eigene Tasche, teils brachte er es durch. 1951 verurteilte man ihn dafür in Abwesenheit zu sechs Jahren Haft. Zu guter Letzt war er als Hochschullehrer gescheitert. Das Vertrauen, das Mary McCarthy in den charismatischen Charmebolzen gesetzt hatte, indem sie ihm 1949 eine Vertretungsstelle am Bard College verschaffte, enttäuschte er. Das Lehrdeputat endete im Eklat. Das Haus des in Frankreich währenden Professors, das er gleich mit übernommen hatte, hinterließ er halb verwüstet; die Miete blieb er schuldig.

Paul de Man - ein hinreißend überzeugender Lügner

Was Evelyn Barish in 20-jähriger Arbeit für ihr Buch „The Double Life of Paul de Man“ (Liveright) zur Persönlichkeit dieses offenbar hinreißend überzeugenden Lügners, Betrügers und Bankrotteurs zusammengetragen hat, ist eine Räuberpistole, deren Verwicklungen noch viel abenteuerlicher sind, als sich hier darstellen lässt – auch wenn manches in groben Zügen schon bekannt war.

1987, vier Jahre nach de Mans Tod, entdeckte der Flame Ortwien de Graef den „Wartime Journalism“ und veröffentlichte ihn. Ein Band mit „Responses“ folgte, samt der haarsträubenden Absolution von de Mans Freund, dem Philosophen Jacques Derrida: Als Jude konnte er eine doppelte Entlastungsautorität beanspruchen. 1991 stellte der Amerikaner David Lehman in „Signs of the Times“ den Fall zum ersten Mal im Zusammenhang dar. In Deutschland machte zuletzt 2012 „Der Meineid“ (Klever Verlag), die verspätete Übersetzung eines Schlüsselromans von Henri Thomas, auf den Bigamisten Paul de Man aufmerksam. Derrida nahm in einem seiner letzten, sehr viel hellsichtigeren Texte, „Le parjure, peut-être“, ausführlich darauf Bezug.

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Die Detailfreudigkeit, mit der Barish ihren Helden als pathologischen Mythomanen zu entlarven versucht – und damit zugleich den dekonstruktivistischen Literaturtheoretiker vernichten will – lässt nun das halbe intellektuelle Amerika erneut Kopf stehen, von „Harper’s Magazine“ bis zur „New York Times“.

Dabei reicht ihr Buch gerade bis ins Jahr 1960, zum Beginn seiner Lehrtätigkeit an der Cornell University. Carlin Romano im „Chronicle of Higher Education“ genügt das schon. „De Man für ein Werk zu ehren, dessen Wurzeln im Amoralischen liegen“, schreibt er, „macht uns mitschuldig an seiner Amoral.“ So radikal war nicht einmal de Mans Yale-Kollege Geoffrey Hartman, der nach den Kollaborationspamphleten als Erster am Scharnier von Leben und Werk schraubte. De Mans Denken, erklärte er damals, demzufolge Sprachbilder, über die man aus Gewohnheit hinwegliest, den semantischen Gehalt von Texten heimlich unterminieren, sei auch als Ausflucht vor den Tatsachen seines Lebens zu verstehen.

de Man, ein Soziopath?

Louis Menand im „New Yorker“ und Peter Brooks in der „New York Review of Books“ sind bemüht, die Ebenen von Person und Theorie wieder zu trennen, zumal Barish den Zusammenhang nur behaupte, aber nicht darlegen könne. Ihr Buch sei eine faszinierende Lektüre – und ein Ausbund an Schlamperei. Im Biografischen regiere ein fiktional gefärbter Entwurf, der sich um Quellen gerne drückt, im nur angetippten Intellektuellen eine himmelschreiende Ahnungslosigkeit.

Menand scheut sich nicht, den frühen de Man – nach 1960 soll er sich in den Griff bekommen haben – einen Soziopathen zu nennen. Doch er zieht andere Schlüsse: „Wenn Sie ein Emigrant wären, der eine kriminelle Vergangenheit verbergen will, würden Sie so ziemlich überall, wo Sie lebten, mit ihrer Miete in Verzug geraten? Würden Sie behaupten, fiktive akademische Titel und Promotionszeugnisse zu besitzen, die leicht überprüft werden könnten?“ Und: „Würden Sie sich als Anführer einer umstrittenen Schule des literary criticism betätigen? Sicher nicht. Sie würden nach Möglichkeit in der Versenkung verschwinden.“ Er beschreibt de Man als größenwahnsinnigen Hasardeur.

Brooks, langjähriger Kollege in New Haven, bewertet überdies einen Brief, in dem de Man 1971 gegenüber der Fakultät die Hermès-Affäre wie seine Kriegsaktivitäten andeutete, deutlich anders als Barish, die darin nur eine Fortführung seiner Schwindeleien sieht: Er wollte, so Brooks, den „Reflux“ der Vergangenheit loswerden. Allerdings hätte de Man seine Karriere wohl nicht ungehindert fortsetzen können, wenn schon damals jemand auf Details bestanden hätte.

Und doch wird sich der Fall de Man nicht mehr zu einem Fall Heidegger auswachsen. Für ihn gilt vielmehr: Je mehr man – auch mithilfe von Barishs Buch – über den schlechten Menschen erfährt, desto besser lässt er sich von dem brillanten Philologen unterscheiden.

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