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Liverpool

© Ullstein

Liverpool: Yeah! Yeah! Yeah!

Die Beatles haben ihre Heimatstadt verlassen, Maggie Thatcher hat den verfallenen Ort gehasst. Doch heute bietet Liverpool Kunst und Kultur - und feiert im Aufschwung seinen 800. Geburtstag.

Ich nahm einen Zug nach Liverpool. Als ich ankam, gab’s ein Müllfestival. Die vielbeschäftigten Bürger hatten sich ein wenig Zeit abgeknapst, um die ansonsten kahle, heruntergekommene Stadt mit Chipstüten, leeren Zigarettenschachteln und Plastiktüten zu verschönern. Die flatterten fröhlich in den Büschen und verliehen den Bürgersteigen und Rinnsteinen Form und Farbe.“

So wie es Bestsellerautor Bill Bryson vor zwölf Jahren beschrieb, sieht es heute noch in der Innenstadt aus: Als würden die Menschen alles fallen lassen in dem Moment, in dem sie es nicht mehr brauchen. Plumps.

Es ist ein trüber Samstagnachmittag, es regnet – in Liverpool regnet es oft –, die City könnte kaum hässlicher sein. Architektonisch passt hier eigentlich nichts zu gar nichts. Der „Blitz“ der Deutschen hat keine andere englische Stadt außer London so verheerend getroffen; danach konnte sie sich nie mehr wirklich erholen. Mit dem Untergang des Empires, dem Aufkommen von Flugzeugen und Containerschiffen sowie der Hinwendung zum europäischen Kontinent, der genau auf der anderen Seite des Landes lag, ging es wirtschaftlich rasant bergab mit der einst so reichen Hafen- und Handelsstadt: Aus dem Tor zur Welt war eine Sackgasse geworden. Da war man froh, wenn überhaupt jemand investierte und machte ihm keine Bauvorschriften in Sachen Schönheit und Harmonie.

Immerhin sind in der Innenstadt nur einzelne Häuser zugenagelt, nicht wie in anderen Teilen, wo ganze Straßenzüge verrammelt und zum Abriss freigegeben sind. 850 000 Einwohner wurden 1930 in Liverpool gezählt – heute sind es ungefähr halb so viel. Die schrumpfende Stadt gehört denn auch zum internationalen Kulturprojekt der „Shrinking Cities“.

Als Christoph Grunenberg vor sechs Jahren her zog, „da hat man sich an einem regnerischen Novembertag schon mal gefragt, ob das die richtige Entscheidung war“. Der Deutsche ist Direktor der Tate Liverpool, einem markanten Symbol für den Strukturwandel der Region. Mit Zuckerwürfeln hatte der Liverpudlian Henry Tate sein Geld verdient. Investiert hat er es in die Kunst: Ihm verdankt England die Londoner Tate Gallery. 1988 wurde die Tate Liverpool eröffnet – wenige Jahre nachdem die hiesige Zuckerfabrik für immer geschlossen worden war. Rund 20 Prozent Arbeitslose gab es in Liverpool, das zu den ärmsten Regionen Europas gehörte. Erst Finanzspritzen der EU und Großbritanniens sowie ein ebenso kluger wie pragmatischer Stadtpolitiker führten eine allmähliche Wende herbei.

Die Industrie geht, die Kultur kommt: Das ist der neue Zeitenwechsel der alten Hafenstadt, die übermorgen, am 28. August, ihren 800. Geburtstag feiert. Und die ihren Reichtum zu einem großen Teil dem Sklavenhandel verdankte, der in Großbritannien erst vor 200 Jahren abgeschafft wurde. Zum großen Bedauern einiger Bewohner.

Christoph Grunenberg gefällt die Stadt. Gerade „das Inkongruente“ macht für ihn ihren Charme aus: Das Nebeneinander (oder Durcheinander) von klassizistischer Architektur des 18. Jahrhundert und 60er-Jahre-Fernsehturm, von riesiger (hässlicher) anglikanischer Kathedrale, der größten der Welt, und dem alten Chinatown, vom avantgardistischem Medienzentrum FACT und Saufkneipen. Dem 44-Jährigen gefällt es, dass hier nicht alles so geleckt und herausgeputzt ist, die Stadt etwas Rohes hat, aus dem sich auch ihre Kultur und ihr Witz speist.

Als Grunenberg herzog, „gab es ein einziges gutes Restaurant“. Heute scheint jede Woche ein neues schickes Lokal aufzumachen, selbst in den düstersten Straßen. Menschen, die in die bürgerlichen, grünen Wohnviertel Liverpools geflohen waren, kehren zum Leben zurück in die Innenstadt. Die Immobilienpreise der Kulturhauptstadt Europa 2008 haben sich in den letzten zehn Jahren zwar verdoppelt, sind aber immer noch günstiger als im Rest des Landes. Was Liverpool gerade für junge Leute attraktiv macht. Drei Universitäten hat die Stadt, 60 000 Studenten – und am Wochenende Heerscharen von Partygängern, die in „Livercool“ die Sau raus lassen. Zum Frühstück im Hotel bringen junge Männer ihre Bierflaschen gleich mit. Die Kellnerin nimmt es mit Humor.

Was früher der Hafen, ist heute der Flughafen, der so schnell expandiert wie kein anderer im Land. Durch den Boom der Billigflieger sind die Liverpudlians plötzlich mit der ganzen Welt verknüpft, Köln, Basel, Madrid, New York – und Berlin, das für Sie Simon Rattle viel Ähnlichkeit mit seiner Heimatstadt hat, wie er in einem Interview erklärte. Gerade den Stolz auf die eigene Stadt und ihre Institutionen hat der Liverpudel, wie er wegen seiner Frisur genannt wird, wiedererkannt. Enorm sei die Identifikation der Berliner mit den Philharmonikern, auch wenn sie noch nie eins ihrer Konzerte gehört hätten – so wie er selbst die Beziehung zum FC Liverpool „in seinen Eingeweiden spüre“. Obwohl er noch nie in ihrem Stadion war.

Es gibt etliche Ähnlichkeiten zwischen den verwundeten Städten: die sichtbaren Narben, der fast trotzige Überlebenswille, die große Klappe, der Vergleich mit New York. Liverpool wurde schon 1886 von der „London Illustrated News“ als „New York Europas“ bezeichnet. So wenig New York mit dem Rest Amerikas zu tun hat, so unbritisch wirkt Liverpool oft – extrovertiert, katholisch, gesprächig, offen auch Fremden gegenüber, die man schon mal auf der Straße anspricht. Etwas, was ihm in London nie passiert, wie Grunenberg erzählt.

Eine Insel auf der Insel –„edgy city“, so haben die Autoren Steve Higginson und Tony Wailey Liverpool genannt: eine kantige Hafenstadt, die am äußersten Rande des Landes liegt. Danach kommen nur noch Wales und das Meer. Liverpool war für viele das Ende der Alten Welt: Millionen, vor allem Iren auf der Flucht vor der Hungersnot, stiegen hier aufs Schiff, um in die Neue Welt auszuwandern.

Viele blieben auch einfach hier hängen, prägten die Stadt und ihre Kultur. Mike McCartney ist einer ihrer Nachfahren. Mit seinen roten Haaren und den vielen Sommersprossen sieht er aus wie ein Ire aus dem Bilderbuch. Dabei ist er Liverpudlian durch und durch, hier geboren und aufgewachsen und geblieben, als die meisten seiner Freunde gingen – so wie sein Bruder Paul mit den Beatles. Nach London zu gehen, sagt der einstige Friseur und spätere Fotograf und Musiker der „Scaffolds“, das habe ihn nicht gereizt. „Ich liebe die Leute, ihre Menschlichkeit, ihre Treue. Ihren Optimismus, ihren merkwürdigen Humor. Sie sind so lebendig!“ Deswegen, vermutet er, habe Margaret Thatcher Liverpool so gehasst: „Wir waren zu ehrlich. Zu wirklich.“ Real – er läßt sich das Wort auf der Zunge zergehen. „Sie wollte, dass wir einfach parieren wie Hunde.“

Schon die Kommunisten waren am mangelnden Gehorsam der Einwohner verzweifelt. „Liverpool ist ein anarchischer Ort, wo man Spontanität und extravagante Gesten höher schätzt als die Disziplinen taktischen Denkens und geplanter Intervention“, heißt es in einem kommunistischen Bericht von 1935. „Liverpool ist das Grab eines Organisators.“

Und das eigene Grab. Der arme proletarische Norden Großbritanniens wurde schon immer mit besonderer Skepsis vom wohlhabenden bürgerlichen Süden beäugt. In den 80ern aber stießen eine trotzkistisch orientierte Labour Party, die die Stadt regierte, und Margaret Thatcher als Premierministerin aufeinander. Der Clash führte zu Streiks und heftigen Krawallen, schließlich der Abschaffung des Stadtparlaments. Liverpool wurde endgültig an den Rand gedrängt.

Dann kam die große Chance: wieder im Mittelpunkt zu stehen, Kulturhauptstadt Europas 2008 zu werden. Mike McCartney – der sich 20 Jahre lang McGear nannte, um als Musiker der Scaffolds nicht immer der kleine Bruder von Paul zu sein („das war ich meinem Stolz schuldig“) – ging zur Entscheidungsverkündung, zog sich sogar „einen extra angeberischen Anzug an“. 2003 war das. „Die meisten Leute aus dem Showgeschäft sind da nicht hingegangen“, so McCartney: „weil sie keine Lust hatten, als Verlierer dazustehen.“ Alle setzten auf Newcastle oder Birmingham, keiner gab einen Pfifferling auf die Stadt, die jahrelang als Witzfigur herhalten musste, „stellvertretend für alles, was schief ging in diesem Land“, so Christoph Grunenberg.

Außer den beiden erfolgreichen Fußballclubs gab es damals nicht mehr allzu viel, womit man sich schmücken konnte. Wenn er an den Moment der Verkündung denkt, kriegt Mike McCartney heute noch Gänsehaut. „Ich habe noch nie so viele erwachsene Männer weinen sehen.“

Möwen kreisen über den Köpfen. Auch wenn man das Wasser nicht sieht, man kann es überall hören: Möwengeschrei ist Liverpools Erkennungsmelodie. Vielleicht ist es auch eine Stadt, die mehr zum Hören als zum Sehen ist. Hier spricht man sogar eine eigene Sprache. Und das so schnell, dass ein Ausländer kaum hinterherkommen kann. „Scouse“ heißt der Dialekt. So werden auch die Einwohner selbst genannt – nach einem Eintopf, der mit dem Labskaus ziemlich viel Ähnlichkeit hat. Ein eigener „Mersey Sound“ hat sich hier entwickelt, zu dem längst nicht nur die Beatles gehören. Es gibt keine andere Stadt, deren Bands so viel Number 1 Hits herausgebracht hat, die Clubkultur blüht.

Nicht nur Mike McCartney, viele Einheimische sind es ein wenig müde, auf die Fabulous Four reduziert zu werden, auch wenn die Stadt vom Beatles-Tourismus kräftig profitiert. Aber für sie sind die Pop-Stars nur Teil jener Bewegung, die Liverpool in den 60er Jahren zum „Centre of the Creative Universe“ machten. So lautet der Titel einer Ausstellung, die zur Zeit in der Tate Liverpool zu sehen ist; sie präsentiert die Stadt als ein Zentrum der internationalen Avantgarde, die Fotografen wie Candida Höfer, Bernd und Hilla Becher, Martin Parr, Künstler wie Yoko Ono, und Lyriker wie Allen Ginsberg anzog. Der befand bei seinem Besuch 1965, als er von einer Bar zum nächsten Buchladen zum übernächsten Kellerclub zog: dass Liverpool „im Augenblick das Zentrum des Bewusstseins des menschlichen Universums“ sei. Gewohnt hat der amerikanische Beatnik bei Adrian Henri, Künstler und Poet, Performer und Musiker der Band „The Liverpool Scene“, der mit der Anthologie „The Mersey Sound“ Furore machte: eine halbe Million Mal verkaufte sich der Lyrikband.

Die spannende, überraschende Ausstellung ist der Beitrag der Tate Liverpool zum 800jährigen Stadtjubiläum. In der Festschrift zum 700. Geburtstag wurden noch die Docks der Hafen- und Handelsmetropole als eine Art Weltwunder gefeiert. Als Liverpool am Boden lag, gab es Überlegungen, die Albert Docks am River Mersey abzureißen und durch einen Parkplatz zu ersetzen. Jetzt sind sie Unesco Weltkulturerbe – die größte zusammenhängende Ansammlung denkmalgeschützter Gebäude außerhalb Londons, wie man hier immer wieder stolz erklärt bekommt. Ein Touristenmagnet – und eine Enttäuschung. Wohnungen, Cafés, Souvenirläden und Restaurants, von denen viele zu Ketten gehören – eine eher langweilige Mischung, wären da nicht das Maritime Museum und die Tate.

Aus der Ferne betrachtet, könnte man Liverpool fast für eine schöne Stadt halten. Etwa wenn man von der anderen Seite des River Mersey auf die Drei Grazien guckt, wie die prächtigen Gebäude aus der Zeit der Handels- und Hafenmetropole heißen. Von dort drüben hat man auch den besten Überblick auf die Riesenbaustelle, die sich in der Nachbarschaft der Docks befindet: das Paradise Project, wie es passenderweise heißt. Dort baut der Duke of Westminster, der reichste Mann Englands, einen gigantischen Komplex aus Wohnungen, Büros, Hotels, Geschäfte, Restaurants. Direkt am Fluss errichten die Architekten des Londoner Eye, des Riesenrads an der Themse, eine extravagante Veranstaltungsarena, außerdem entsteht im einstigen Heimathafen der Titanic ein neuer Kreufahrtterminal und das neue Museum von Liverpool, das aber allerdings erst 2010 fertig wird.

Nicht alle sind begeistert von den neuen Aussichten. Skeptiker befürchten die Verdrängung der weniger reichen Bewohner aus Liverpools Zentrum, die Verwandlung der kantigen in eine stromlinienförmige Stadt. Mike McCartney, als Liverpudlian erklärter Vertreter des positiven Denkens, schiebt alle Bedenken zur Seite. Der 63-Jährige, der im nächsten Jahr auch einen Fotoband über seine Heimatstadt veröffentlicht, beschwört die Chance des Kulturjahrs, das im Oktober eingeläutet wird: wenn der Turner Preis, die höchste künstlerische Auszeichnung in Großbritannien, zum ersten Mal außerhalb Londons verliehen wird, in der Tate Liverpool. Dann, glaubt, McCartney „werden wir die Geister der Vergangenheit zur letzten Ruhe betten.“

Was nicht heißt, dass er Ruhe erwartet: McCartney rechnet fest mit Überraschungen. „Die Stadt ist wie ihr Fußballteam, they always keep you on the edge of the seat.“ Für ihn ist Liverpool die Hauptstadt des Surrealismus. „Man weiß nie, was jemand als Nächstes tut, wann er einen Strauß Blumen aus dem Mantel zieht.“

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