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© EPA

London: Eine Stunde Ruhm

Kunstaktion in London: Antony Gormley stellt am Trafalgar Square Briten auf den Sockel – rund um die Uhr.

Symeon Stylites bestieg im 5. Jahrhundert eine Säule, um von oben herab zu demonstrieren, wie fern er dem menschlichen Treiben und wie nahe er Gott war. Wie berichtet wird, stieg er jahrelang nicht mehr herab. Der Hungerkünstler David Blain harrte immerhin 44 Tage und Nächte in der Glasgondel aus, in der er vor ein paar Jahren am Kran bei der Tower Bridge baumelte. Wieder bestand das Kunststück in der Ausdauer und der standhaften Verweigerung dessen, was sich am Boden abspielt.

Antony Gormleys aktuelle Kunstaktion „One & Other“ auf dem Trafalgar Square ist ein milderer Charaktertest. Die vom Computer ausgewählten Freiwilligen müssen nur eine Stunde auf dem Sockel stehen. Wenn die Aktion im Oktober zu Ende geht, wird der Hubstapler 2400 Menschen aus allen Regionen Großbritanniens auf den Sockel gehoben haben. Nicht der kühne Einzelne ist hier der Protagonist, sondern die Masse.

Auf dem leeren Sockel, dem „Fourth Plinth“, reagieren Künstler seit Jahren mit wechselndem Erfolg auf die Frage, die Londons Stadtväter nie schlüssig beantworten mochten: Wer oder was ist es heute noch wert, auf einen Denkmalssockel gehoben zu werden? Gormley zählt nicht einmal die eigene Kunst dazu: Statt seiner üblichen Eisenfiguren leiht er sich lebende Menschen, die auf dem Sockel tun und lassen können, was sie wollen – eine Stunde lang.

Die Hausfrau Rachel Wardell eröffnete die Show im Juli mit Werbung für den Kinderschutzbund. Seither wurden dort Gedichte verlesen, man saß in Klappstühlen herum, trank Tee, machte Werbung, hielt Reden, starrte einfach nur herunter, spielte Fagott oder zupfte die Balalaika mitten in der Nacht – denn die Säule wird 24 Stunden bespielt. Während diese Zeilen entstehen, hält auf dem Sockel gerade ein Mann der Samariterhilfe einen Vortrag über Erste Hilfe: Dank Webkameras funktioniert die Aktion als Video-Livestream am besten, im Internet zu sehen unter www.oneandother.co.uk. Auf dem Platz selbst ist wenig zu verstehen, und mit all den Scheinwerfern und Zaungästen fühlt man sich wie im TV-Studio.

„Starrt mich nicht so an“, schrieb ein älterer Herr dort auf eine Tafel. Und fügt die Frage hinzu, die vielen unter den Nägeln brennt: „Ist es Kunst?“ Gormley räumte ein, dass es mehr mit Theater zu tun hat, bis ihm einfiel, dass einer Sockelpräsentation ja jede Dramatik fehlt. Seitdem spricht er von einem anthropologischen Experiment. Auf dem Sockel werde ein selbst gewählter Querschnitt der Bevölkerung vermessen, fotografiert und bestaunt. Gormley schaffe das „wahrste Porträt Großbritanniens“, schwärmt sein Galerist Jay Jopling.

Es ist jedenfalls ein liebenswertes Porträt, das Gormley die Briten von sich selbst zeichnen lässt. Dass sie ein Talent zur Exzentrik, Selbstdarstellung und einen Drang zum wohltätigen Aktivismus haben, wusste man allerdings schon. So ist auf dem Sockel nichts zu sehen, was man nicht auch in den Straßen von London oder an der Speaker’s Corner im Hyde Park entdecken könnte. Außerdem gibt es andere, eindrücklichere Sockelkunstwerke: Mark Wallingers „Ecce Homo“ zum Beispiel, ein in Menschengröße schockierend verwundbar wirkender Marmor-Jesus. Oder Rachel Whitereads „Monument“, das die Frage des leeren Sockels schlüssig beantwortet, indem er als Spiegelbild seiner selbst auf den Sockel gehoben wird.

Kunst muss mehr sein als Spektakel. Der Direktor der Nationalgalerie, Nicholas Penny, beklagt denn auch den Lärm, der vom Sockel in sein Museum herüberweht. Er beklagt außerdem den Verlust der auratischen Ferne, die ein Merkmal großer Kunst ist. Auch echte Säulenheilige brauchen die Aura. Wer auf einen Sockel starrt, will Entrückteres, anderes sehen als sich selbst. Matthias Thibaut

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