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Kultur: Luftschlösser und Quantenburgen

Was taugt Science Fiction in Zeiten von finsterem Pragmatismus? Eine Buchreihe sucht Antworten

Es ist symptomatisch, dass das Unwort des letzten Jahres „alternativlos“ heißt. Ob Stuttgart 21, Hilfe für Griechenland oder Flughafenausbau in Frankfurt – Alternativen haben es schwer in der politischen Rhetorik. Das Vorhandene, so lautet ein Imperativ der Gegenwart, ist das Notwendige. Schlechte Zeiten für die Zukunft. Schlechte Zeiten aber auch für ein literarisches Genre, das seit einem guten Jahrhundert über Szenarien des Möglichen nachdenkt: Science Fiction. Symptomatisch ist allerdings auch, dass der Verlag Matthes & Seitz Berlin, spezialisiert auf Reibungen und unzeitgemäßes Denken, just in diesen finsteren Zeiten eine Science-Fiction-Reihe auflegt. Sie heißt programmatisch: „Neue Welt“.

Nicht dass es heute keine Science Fiction gäbe. „Perry Rhodan“ geht in diesem Herbst ins fünfzigste Jahr und ist mit Heft Nr. 2600 unter dem Titel „Das Thanatos-Programm“ gerade in die Ära des „Neuroversums“ eingetaucht. Die Serie, eines der wenigen deutschen Exportprodukte auf dem weitgehend amerikanisch dominierten SF-Markt, macht das Verwertungsspektrum deutlich: vom wöchentlichen Heftchen übers Hardcover, Taschenbuch und E-Book bis zum Comic, Hörspiel, Film und Computerspiel, inklusive Weiterschreib-Projekte der Fangemeinde, des Fandoms. Zugleich wird bei „Perry Rhodan“ der Trivialitätsverdacht einsichtig, der das Genre begleitet: SF kombiniere avancierte Themen mit konventionellen Schreibweisen.

Triviales war lange auch ideologisch suspekt. Selbst bundesdeutsche Großautoren und SF-Herausgeber wie Herbert W. Franke oder Wolfgang Jeschke sind nur Eingeweihten ein Begriff. In der sogenannten Hochkultur hat SF jedenfalls – anders als der potenziell intellektuelle Krimi – nie eine Lobby gehabt. Vergleichsweise wohlgelitten war SF höchstens in der DDR, wo „wissenschaftliche Phantastik“ wegen ihrer Affinität zur technikgestützten Planung einer verheißungsvollen Zukunft höher im Kurs stand. Dass SF oft Elemente der Staatsutopien von Thomas Morus bis Francis Bacon und der Anti-Utopien von Aldous Huxley bis George Orwell integriert, konnte das Genre allerdings auch im Lande der vermeintlich realisierten Utopie heikel machen.

Neben der gegenwärtigen Krise des Alternativen macht ein Konkurrenzgenre der klassischen SF das Leben schwer: Fantasy. Hier, wo Magie und Mythos herrschen, Phantasien nicht rational legitimiert werden müssen, hat man sich vom Realen abgekoppelt. Selbst wenn die Grenzen zuweilen fließend verlaufen: Für Fantasy-Eskapismus gibt es im Unterschied zu alternativen Weltentwürfen der SF einen Markt. Das schlägt sich auch in den aktuellen Verlagsprogrammen nieder. Reine Fantasy-Reihen findet man bei Piper oder im Tolkien-Verlag Klett-Cotta (Hobbit Presse). Dass Fantasy zum Genre-Crossing neigt, spiegelt sich in S. Fischers FJB-Reihe, die SF und Fantasy mit Horror und Mystery abmischt. Ullsteins Reihe Science Fiction Stories gibt es längst nicht mehr, die prestigeträchtige Phantastische Bibliothek bei Suhrkamp dümpelt nur noch vor sich hin. Bei Lübbe und Droemer Knaur drängelt sich die SF am Rande der großen Fantasy-Sparte, allein im Heyne Verlag hält man das SF-Fähnchen hoch. Für die Newcomer von Matthes & Seitz gibt es also ein weites Feld zu beackern.

Die bisher erschienenen sechs Bände der „Neuen Welt“ verweisen auf die medialen Potenzen des Genres und deuten an, dass SF Literatur im engeren Sinne sein kann. Ein veritabler Auftakt-Coup war im letzten Jahr Band 1, die Erstveröffentlichung des Drehbuchs von Rainer Werner Fassbinders Film „Welt am Draht“. Der hochgelobte TV-Zweiteiler von 1973 erschrickt sehr früh über die Möglichkeiten computergenerierter Simulationswelten und gilt als eine Art „Pre-Matrix“. Über Thor Kunkels „Schaumschwester“ mag man streiten. Immerhin nimmt diese (Männer-)Fantasie vom synthetisch hergestellten perfekten Sexualobjekt einen Erzählstrang auf, der ganz am Anfang der SF-Geschichte steht: Mary Shelleys „Frankenstein“ und der künstlich geschaffene Mensch. Eine Reise in den „Inner Space“, der seit der „New Wave“ der 1960er zum SF-Kosmos gehört, unternimmt „Der Heiler“, Oliver Bukowskis Theatermonolog über das Scheitern der Psychoanalyse. Das aktuelle Programm bietet mit „High Wichita“, einer Art Post-Cyberpunk-Novelle des Amerikaners Mark von Schlegell, im besten Sinne klassische SF als Zukunftsprosa. Verhandelt wird der Status von Kunst in Zeiten von Quantenschlössern, die den Unterschied von Original und Kopie hinfällig machen. Der literarisch erstaunlichste Band aber heißt „Papirossy“. Dieser Debütroman eines jungen Russen aus Kasan, Dmitri Dergatchev, entwirft eine atmosphärisch dichte, beklemmende und immer wieder überraschende Topografie, in der sich die Welten aus Jim Jarmuschs „Dead Man“ und Andrej Tarkowskis „Stalker“ überlagern.

Science Fiction, demonstrieren die schmalen Bände der „Neuen Welt“, ist mehr als ein serielles Weltraumabenteuer. Die renommierteste Auszeichnung für deutschsprachige SF ist nach Kurd Lasswitz benannt, der mit dem Roman „Auf zwei Planeten“ (1897) neben Jules Verne und H.G. Wells zu einem Gründungsvater des Genres wurde. Dass der Lasswitz-Preis 2009 an Dietmar Dath und „Die Abschaffung der Arten“ ging, zeigt, wo heute Potenziale liegen. An die Stelle der Ingenieursleistungen sind die Life Sciences mit der Biologie – und in ihrem Zentrum der Genetik – als Leitwissenschaft getreten. Die biopolitischen Fiktionen freilich sind in hohem Maße streitbar – und keineswegs alternativlos.

Mark von Schlegell: High Wichita. Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Simon Elson. 90 Seiten, 10 €. – Dmitri Dergatchev: Papirossy. Aus dem Russischen von Regine Kühn, mit einem Gespräch mit Wladimir Velminski, 128 S., 12,80 €. Beide erschienen im Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011.

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