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Kultur: Mach dich leer

Martenstein erklärt, wie Filmkritiker Leben retten können

Aus dem Film von Rivette bin ich mit großem Respekt rausgegangen. Ich habe nämlich mal französische Literatur studiert, und es war eine Balzac-Verfilmung, ich liebe Balzac. Der Film war aber so extrem langweilig, dass es schon wieder eine eigene Kunst darstellt. Es ist bestimmt nicht einfach, so extrem langweilige Filme zu machen. Ich stelle mir vor, wie der berühmte Regisseur Jacques Rivette zu seinem Cutter sagt: „Diese Szene da nehmen wir raus, die kommt mir irgendwie spannend vor. Stattdessen zeigen wir drei Minuten lang das Meer und lassen die Schauspieler dazu langsam die Herrschaftszeiten der Bourbonenkönige deklinieren. Das Meer muss aber völlig unbewegt sein, bloß keine Wellen!“ Oder wie er zu seinem Hauptdarsteller sagt: „Guillaume, du schaust viel zu interessant aus. Mach dich innerlich leer. Denk daran, dass dieser Film und sein Publikum dich nicht im Geringsten interessieren.“

Draußen vor dem Kino lachten die Cinemaxx-Mitarbeiter. Sie sagten: „Ja, der Rivette ist ein echter Saalausfeger. Er soll aber leider nach einer Stunde etwas besser werden.“ Die Mitarbeiter waren enttäuscht. Sie sagten, bei manchen Filmen, die es schaffen, dieses Langeweileniveau bis ganz zum Schluss zu halten, kommen nach einer Weile nicht nur das Publikum, sondern auch die leeren Tüten, die Flaschen und die zerknüllten Prospekte aus dem Kino herausgekrochen, und sie müssen nach der Vorstellung nicht sauber machen.

Ich denke manchmal an die Lebenszeit, die auf diese Weise verschwindet. Wenn ein Film 100 000 Zuschauer hat, die nicht rausgehen, und eine Stunde davon ist vollkommen langweilig und nutzlos, dann sind 100 000 Stunden oder etwa elf Jahre Leben einfach sinnlos verschwunden. Etwa ab 700 000 Zuschauern kostet ein langweiliger Film ein komplettes Menschenleben. Dumme Filme sind sogar noch gefährlicher, weil sie mehr Zuschauer haben und man nicht so schnell rausgeht. Ein sehr dummer Film von 90 Minuten kann allein in Deutschland fünfzehn Menschenleben fordern. Dies ist mein Beitrag zur Debatte über die deutsche Filmkritik. Kritiker, auf die man sich verlassen kann, retten Leben. Und dies war auch die letzte Kolumne dieses Jahres.

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