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Kultur: "Madame": Der sozialistische Sumpf soll erzittern

Er ist 18 und sie 32. Sie trägt echtes Chanel No 5 und bringt einen Hauch von bürgerlicher Eleganz ins graue sozialistische Warschau der späten 60er Jahre.

Er ist 18 und sie 32. Sie trägt echtes Chanel No 5 und bringt einen Hauch von bürgerlicher Eleganz ins graue sozialistische Warschau der späten 60er Jahre. Er lernt Racine und Hölderlin für sie auswendig und schreibt ihr anspielungsreiche Aufsätze über die Sterne. Doch seine Lage ist aussichtslos, und das weiß er: Sie ist seine Französischlehrerin. Gefangen in der Rolle des Schülers - wenn auch der eines Musterschülers in der Abiturklasse - beschließt der Ich-Erzähler in "Madame", dem Romandebüt des Polen Antoni Libera, wenigstens alles über seine Angebetete in Erfahrung zu bringen.

Akribisch forscht er nach Madames Leben und Vorleben. In seiner Sehnsucht nach der weltgewandten und westerfahrenen Lehrerin liegt auch das Sehnen nach einem anderen Leben: "Sie war stark und stolz. Und sie schien unabhängig von der entsittlichten und hässlichen polnischen Realität, geschaffen in düsterem Wahn von der Volksdemokratie. Mit ihrem ganzen Wesen sagte sie nein zu dieser Welt. Mit ihrem Aussehen, ihren Manieren, ihrer Sprache, ihrer Intelligenz. Sie war der stumme Ausdruck dafür, dass wir im Sumpf und Aberwitz feststeckten, und zugleich dafür, dass man ein völlig anderes Leben leben konnte." Mit Sozialismus darf man dem Ich-Erzähler gar nicht erst kommen: Er müht sich, dem sozialistischen Schulalltag zu trotzen, wo er kann. Die schulischen Gedenkfeiern zum Spanischen Bürgerkrieg versucht er, mit Flamenco-Musik zu torpedieren, und über die DDR-Armbanduhr, die er bei einem Theaterwettbewerb gewinnt, lässt er voll Verachtung Warschaus Straßenbahn donnern.

Liberas Buch, angelegt als Bildungsroman, hat in Polen auch deshalb Wellen geschlagen, weil der Autor seinen Ich-Erzähler mit der Radikalität eines genervten Heranwachsenden die Enge jener sozialistischen Jahre nachzeichnen lässt und damit Debatten über Anpassung und Opportunismus entfachte. Dieser Ich-Erzähler ist ein Angeber und Alleskönner: Shakespeare aus dem Stegreif zitierend, Klavier spielend, belesen, fast perfekt im Französischen. Sonderlich sympathisch ist er in seiner Perfektion nicht. Aber durch die Angriffslust und Souveränität seines Erzählens ist "Madame" ein witziger Roman, voll gepackt, bisweilen überladen mit Exkursen zu Literatur, Geschichte und Gesellschaft. Antoni Liberas Erzähler benutzt die Literatur - vor allem die verpönt-dekadente Thomas Manns -, um seiner Umgebung bürgerliche Kultur entgegenzusetzen. Zugegeben, der Erzähler ist auch ein Klugschwätzer, das aber meist so amüsant, dass selbst Längen nicht ins Gewicht fallen.

Tina Heidborn

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