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Kultur: Märchen zum Mitmachen

Zwei Berlinerinnen spinnen um ihren Verlag Das wilde Dutzend eine eigene Welt – mit Bücherabenden und Netzcommunity.

Es war einmal ein kleines Kabinett in einer steinernen Gasse in Prenzlauer Berg. Darin lebten zwei Jungfern inmitten ihrer Schätze: Fläschchen mit Geheimtinte, Gläschen mit Spezereien, Folianten voller Geschichten, bedruckte Papiere, versiegelte Briefe, einem eisernen Stiefelknecht in Käfergestalt und vielem Wunderlichen mehr.

Mutterseelenallein waren sie und waren es auch wieder nicht, denn wie jede gute Fee oder böse Hexe weiß, ist längst nicht alles, was existiert, auch zu sehen. Genau so verhält es sich mit der verborgenen Loge „Das wilde Dutzend“, die dem Kabinett der Jungfern ihren Namen gab. Und bis heute luden sich die beiden von Zeit zu Zeit, wenn sie der wispernden Stille ihrer Wunderkammer überdrüssig wurden, Gäste zu rätselhaften Spielabenden oder magischen Buchpremieren ein. Gerade neulich ist es geschehen. Ein paar Gassen weiter, in der verwunschenen Bar Soupanova.

Da lesen an einem schwülen Juniabend im mit Flohmarktmöbeln und Menschen angefüllten Hinterzimmer Schriftstellerinnen wie Angelika Klüssendorf, Tamara Bach, Ulrike Draesner und Veronika Peters aus „Wer kann für böse Träume - The Secret Grimm Files“. Der von 15 Autoren und 15 Illustratoren beschickte prachtvolle Band ist das neue Kunstbuch des Kleinverlags Das wilde Dutzend. Eine zum 200. Jubiläum der 1812 in erster Auflage herausgekommenen Kinder- und Hausmärchensammlung der Gebrüder Grimm erschienene, sehr eigene Hommage an Rapunzel, Rotkäppchen, Rumpelstilzchen. Die bei einigen Autoren deutlich, bei anderen nur als fernes Echo an die Originalmärchen erinnert, sie weiterspinnt, umdeutet, erinnern und vergessen macht und nebenbei gründlich entstaubt.

Als zweite Erzählebene durchzieht die „Logen-Venimecum“ genannte Verknüpfung mit der Verlagslegende das Buch. Das sind Lexikoneinträge, Notizen, Briefauszüge, die mit den Geschichten korrespondieren und ebenso viel zu ihrer Erklärung wie zur Verklausulierung beitragen. Wahr oder erfunden, Fiktion oder Realität? Für die Verlegerinnen Dorothea Martin und Simone Veenstra, die ihren Autoren und Zeichnern in der Bar als Moderatorinnen zur Seite stehen, ist das eine langweilige Kategorisierung, die durch Fantasie gesprengt gehört.

Vor drei Jahren haben sie aus ihrem Spaß an Geschichten, Rätseln, Mythen, Geheimnissen Ernst gemacht, einen Verlag gegründet und 2010 ihren Erstling „Die Guten, die Bösen und die Toten“ herausgebracht. Seither basteln sie mit den Büchern, Adventskalendern, ihrem regelmäßig geöffneten Logenladen, dem Rollenspielabend „Adeles Salon“, dem demnächst erstmals stattfindenden „Grimms Dinner“ und der auf der Homepage nachzulesenden, üppig aufbereiteten Verlagslegende an ihrer eigenen Mythenwelt.

Deren Ästhetik ist rückwärtsgewandt und viktorianisch, technisch aber mit der zum Weitererzählen einladenden Einbindung der Rollenspielfiguren aus „Adeles Salon“ bei Facebook ganz auf heutigem Stand. Gerade soziale Netzwerker, die in digitaler Kühle nach wärmender Gemeinschaft suchen, brauchen Märchen oder alternative Wirklichkeiten wie die seit dem Mittelalter existierende und seltsamerweise stets aus 13 Mitgliedern bestehende Geheimloge samt ihrer literarischen Detektivin Adele.

Die stolze Jahrhundertwendedame gibt es bei einer kleinen Kaffeetafel an einem schwülen Julinachmittag im Logenladen auch gleich auf einer Fotografie zu besehen. Ebenso wie ein angekokeltes Geheimdokument vom letzten Rollenspiel. Ebenso wie die selbst fabrizierte, nur über der Kerzenflamme sichtbar werdende Tinte. Viel handwerkliche Hingabe, viel Aufwand für eine Idee, die die Verlegerinnen und auch ihre vielen befreundeten Helferlein auch mal ernähren soll. Was sie machten, sei ein Nischenprodukt, sagt Simone Veenstra, die Literatur und Film studiert hat und im Moment als Drehbuchschreiberin arbeitet. „Wir haken in die Leerstellen der Literatur- und Kunstgeschichte ein und füllen die blinden Stellen mit Fiktion. Es ist ein Angebot zum Mitspielen.“ Beim Lesen, bei den Pen-and-Paper-Abenden im Logenladen oder im Netz.

Dorothea Martin hat Theaterwissenschaft studiert und lange Improtheater gespielt. „Aber mir ein Kettenhemd zu schmieden und in den Wald gehen, Orks verprügeln, das habe ich nie gemacht.“ Neil Gaiman lesen, das ist mehr ihr Ding. Der in den USA lebende Brite ist ein Großer der Fantasyliteratur. Den zu lesen sei, als fiele man in den Kaninchenbau, sagt Alice, äh, Dorothea Martin. Und Kollegin Veenstra räumt gleich noch mit dem ihrer Meinung nach in Deutschland verbreiteten Vorurteil auf, Fantasy und Comics seien nur was für Freaks oder Kinder.

Ein Gedanke, der sich angesichts der professionellen Aufbereitung der Geheimnisse des „Wilden Dutzends“ von selbst erledigt. Die eher leser- als verlegerinnenfreundlich kalkulierten Bücher und die Webwelt sind nicht nur schön, sondern auch gut gemacht. Das könnte was damit zu tun haben, dass Dorothea Martin zwar einerseits eine Märchentante, aber andererseits auch Mitglied der digitalen Boheme ist und Marketingkonzepte für medienübergreifendes Erzählen entwickelt. Ziel ist es, per Buch, Film, Spiel und Fanseiten eine verflochtene Erzählstruktur und natürlich eine Gemeinde zu schaffen. Womöglich gar eine Loge? Veenstra und Martin lächeln dämonisch übers Goldrandservice.

Ihr altertümlich eingerichteter Laden immerhin ist analog. Einen Abstecher ins Science-Fiction-Genre planen sie fürs Erste nicht. „Mit der Vergangenheit kann man stilvollere Sachen machen“, sagt Veenstra. Sie mag die deutsche Romantik, die viktorianischen Stilelemente des Fantasygenres Steampunk und dessen Denke „Was wäre, wenn?“ - etwa wenn die Fantasien Jules Vernes wahr geworden wären. Oder wenn Dornröschen keine dusselige Prinzessin gewesen wäre, die sich prompt an der prophezeiten Spindel sticht? Oder wenn Adele Teil einer jahrhundertealten Geschichte ist. Wahrheit ohne Dichtung gibt es nun und nimmermehr.

Draußen schwanken Regenwolken über den Himmel, ein Windstoß fegt durch die steinerne Gasse. Die Jungfern und ihr Kabinett, sie bleiben zurück. Die Krähe schreit. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Grimms Dinner: 3. August, 20 Uhr, Hagenauer Straße 2, Prenzlauer Berg, 35 Euro, Anmeldung bis 20. Juli, Infos und Kontakt: www.das-wilde-dutzend.de

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