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Kultur: Mannheimer Kunsthalle: Inspirationen aus der Heimat: Die Ausstellung versammelt Künstler der Familie Giacometti

"Wenn meine Finger den Ton betasten, befinde ich mich wieder auf den Wegen von Stampa, auf der Rückkehr von der Schule mit dem Schlamm auf meinen Stiefeln; und die Berge mit ihren Schluchten, die mich wegen ihrer Anstiegen zu den Vorsprüngen des Abgrunds und ihrer Schieferstufen, ihres Kiesels und ihrer Wolken anziehen, fangen wieder an, um mich zu wogen; die Bäche fangen wieder an, mir zwischen die Hände zu sickern, die Echos wirbeln in meinem Kopf umher, und die Raubvögel gleiten über alle Leichen meines Lebens." So beschrieb Alberto Giacometti das Zusammenspiel von Erinnerung und Inspiration.

"Wenn meine Finger den Ton betasten, befinde ich mich wieder auf den Wegen von Stampa, auf der Rückkehr von der Schule mit dem Schlamm auf meinen Stiefeln; und die Berge mit ihren Schluchten, die mich wegen ihrer Anstiegen zu den Vorsprüngen des Abgrunds und ihrer Schieferstufen, ihres Kiesels und ihrer Wolken anziehen, fangen wieder an, um mich zu wogen; die Bäche fangen wieder an, mir zwischen die Hände zu sickern, die Echos wirbeln in meinem Kopf umher, und die Raubvögel gleiten über alle Leichen meines Lebens." So beschrieb Alberto Giacometti das Zusammenspiel von Erinnerung und Inspiration. Tatsächlich: Bei genauem Hinsehen schimmert überall die Bergwelt des Oberengadin, die Heimat der Giacomettis, durch: Die langstieligen Bronze-Figuren ragen wie Granitfelsen in den Raum, die bronzenen Tiere scheinen geradewegs aus den Bergen herab auf die grazilen Möbel geklettert zu sein, die Alberto mit seinem Bruder Diego entworfen hat. Welche Faszination von den schroffen Bergmassiven, seinen Tälern und dem Heimatdorf Stampa ausgeht, beweist die Produktivität der Giacomettis. Nicht nur die weltberühmten Künstler Alberto und Diego brachten sie hervor, schon Vater Giovanni und dessen Vetter Augusto zählten zu den bedeutendsten Schweizer Malern ihrer Generation. Bruder Bruno ist ein namhafter Schweizer Architekt. Die Kunsthalle Mannheim stellt zum ersten Mal in Deutschland das µuvre mehrerer Giacomettis einander gegenüber, spürt ihren Verbindungslinien nach.

Was ist das Faszinierende, das die karge, dann wieder üppig blühende Hochgebirgslandschaft ausstrahlt, dass alle Familienmitglieder von ihr geprägt waren - ob sie nun wie Giovanni nach Studienjahren in München und Paris ins Bergdorf Stampa zurückkehrten oder wie Alberto, Diego, Bruno und Augusto den Großteil ihres Lebens in europäischen Metropolen verbrachten? Für Giovanni Giacometti (1868-1933) ist es die Intensität des Höhenlichts, die er immer wieder - mal mit zarten Pastellfarben, mal glühend rot-orange, gegenständlich oder abstrakt - einzufangen versucht. Seine "Steinträgerinnen im Bergell" schweben wie magische Erscheinungen im Zwielicht aus Schatten und grellem Sonnenlicht.

Auch Alberto Giacometti (1901-1966) unternahm immer wieder Anläufe, um die Bergmassive um den Silsersee auf Leinwand zu bannen. Bemerkenswert das Aquarell "Capolago", auf dem er als 13-Jähriger mit wenigen Strichen eine Figur andeutet, die zwischen grau-gelben Gesteinsbrocken und dem alles verschlingenden Blau des Sees fast erdrückt wird. Fünfzig Jahre später platziert Alberto auf der unwiderstehlich zärtlichen Zeichnung "Landschaft mit Mensch, Schiff und Sonne" die einsam der Sonne ausgesetzte Person wie einen Pflock in die Landschaft. Dennoch wirkt sie zerbrechlich und schützenswert. Diese Gleichzeitigkeit von Leichtigkeit und granitharter Widerstandskraft macht auch die Aura des Kräftig-Zerbrechlichen seiner bekannten langbeinigen Bronzefiguren aus. Wie sehr die heimatlichen Berge seine Fantasie beflügelten, zeigen auch die Plastiken "Waldlichtung" und "Der Wald", Ansammlungen langstieliger menschlicher Figuren, die aus der Entfernung besehen wie Bäume in den Himmel wachsen.

Ein nahezu symbiotisches Verhältnis verband Alberto Giacometti mit seinem Bruder Diego (1902-1985). Bevor Diego als Möbeldesigner eigenen Ruhm erlangte, hatte er in Paris jahrelang mit seinem Bruder ein Atelier geteilt, ihm beim Aufbau seiner Figuren geholfen und war dessen bevorzugtes Modell. Die Vorstellung einer Trennung zwischen Hoch- und angewandter Kunst muss den beiden wie ein Konstrukt vorgekommen sein, waren sie doch aufgewachsen zwischen Bauhaus-Stühlen, bäuerlichen Möbeln und Bildern ihres Vaters. Die beiden hatten jedenfalls keine Berührungsängste, als sie in den 30-er Jahren für Pariser Innenarchitekten Einrichtungsgegenstände entwarfen, Diego unter anderem für das Picasso-Museum.

Während Alberto Giacometti die dunklen Grautöne der Granitfelsen, überhaupt das Dunkel des heimatlichen Tales anzog, begeisterte sich sein Onkel Augusto (1877-1947) für die glühenden Farben der sommerlichen Vegetation. Farbharmonien stehen im Mittelpunkt seiner Gemälde, seiner teilweise zu paradiesisch anmutenden, von friedlichen Tieren und Menschen bevölkerten Szenen. An der Grenze zur Abstraktion bewegen sich seine Blumenbilder.

Der im Gegensatz zu seinem Vater Giovanni und seinen Brüdern Alberto und Diego Giacometti vergleichsweise unbekannt gebliebene Sproß der Familie ist Bruno Giacometti (geboren 1907). Als Architekt schuf er vorwiegend in Zürich und Graubünden Einfamilienhäuser, Siedlungen, Schul- und Gemeindehäuser, Spitäler und Ausstellungsbauten im Stil der internationalen Moderne. Weltweit Beachtung fand sein Schweizer Pavillon, den er für die Biennale in Venedig 1952 baute. Seine Gebäude liegen versunken zwischen großen Bäumen und schmiegen sich in die Falten der Wiesen. Auch sie strahlen jene tiefe Menschlichkeit und zärtliche Verbundenheit mit dem Engadin aus, die alle Werke auch der anderen Giacometti auszeichnen.

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