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Kultur: Maß für Weltmaß

In Moskau entsteht Europas höchstes Haus – entworfen von einem Berlin-Hamburger Architektenduo

Was hat es nicht für finstere Vermutungen gegeben, als die ehrwürdige, 1817 errichtete Moskauer Manege im Frühjahr vergangenen Jahres abbrannte – und nur Tage darauf Bautrupps anrückten, um die als Ausstellungsgebäude genutzte ursprüngliche Reithalle wiederaufzubauen! In Bürgermeister Luschkows Moskau sind überraschende Abrisse durchaus nicht unbekannt. Doch die Manege ist aus ihren brandgeschwärzten Umfassungsmauern wiederauferstanden, mit originalgetreuem hölzernen Dachstuhl und in aller denkmalpflegerischen Sorgfalt.

Nach wie vor lässt sich das Baugeschehen in der Moskwa-Metropole nicht mit westlichen Maßstäben messen. Die geschmacklichen Unsicherheiten der postsowjetischen Ära dauern an. Das verwirrend uneinheitliche Erscheinungsbild der Stadt, die ihren asiatischen Charakter durch alle Planungsanläufe selbst der Stalin-Zeit hindurch bewahrt hat, begünstigt die ungestüme Bautätigkeit. Stets war der Einzelbau bestimmend – nicht das Ensemble oder das geschlossene Straßenbild. Vorgaben wie die des „steinernen Berlin“ wären in Moskau nahezu undenkbar, auch wenn es einzelne Stadtteile gibt, in denen das Bemühen um Maßstäblichkeit erkennbar ist, so im südlich der Moskwa gelegenen alten Kaufmannsviertel Samoskworetschje.

Aus der Höhe eines der markanten spätstalinistischen Hochhäuser betrachtet, beginnt sich die Silhouette der Stadt merklich durch neue Türme und Hochhäuser zu verändern. So blinkt die Spitze des weit vom Stadtzentrum auf 250 Meter Höhe aufgetürmten „Triumph-Palasts“ weithin in der winterlichen Sonne.

Das höchste der Hochhäuser indessen hat der in Berlin ansässige Sergej Tchoban gemeinsam mit dem Hamburger Peter Schweger entworfen: Das Bürohaus „Föderation“ im just im Entstehen begriffenen Büroviertel „Moscow City“ hat im Rohbau bislang zwar erst das untere Drittel seiner geplanten 448 Meter erreicht. Doch derzeit wächst, der russischen Kälte ungeachtet, jede Woche ein weiteres Stockwerk heran. Immerhin ist die Stichlinie der Metro bereits in Betrieb, die „Moscow City“ erschließen soll.

Ausgerechnet hier, in den noch stillen Zugängen des U-Bahnhofs unter dem Büroviertel, machen Schautafeln auf das jüngst gefeierte Jubiläum der 70 Jahre alt gewordenen „Metropolitena“ aufmerksam – mit Propagandafotos von Stalins Moskauer Statthalter Kaganowitsch, der den Metro-Bau zur Nagelprobe des Sozialismus forcierte. Und oben dann Kapitalismus pur: Auf einer Fläche von sechzig Hektar wachsen in den kommenden Jahren 2,5 Millionen Quadratmeter Bruttogeschossfläche in den Himmel, dem Pariser Büroviertel „La Défense“ nicht unähnlich. Den Mittelpunkt bildet der „Föderations“-Turm, der allein 341 000 oberirdische Quadratmeter in seinen beiden Teiltürmen umfassen wird, so viel wie das gesamte Debis-Areal am Potsdamer Platz von Berlin. Der größere Turm, 93-stöckig und 354 Meter hoch, und der kleinere mit 242 Meter und 63 Stockwerken werden zusammengehalten durch eine stahlgläserne Aufzugs-„Nadel“ in der Mitte. Deren aufgesetzter Antennenmast soll besagte 448 Meter erreichen und damit alle europäischen Konkurrenten weit übertreffen. Wie es sich für die Mega-City Moskau, in der neunzig Prozent aller russischen Kapitalströme zusammenfließen, eben gehört.

Das Bauvorhaben wird derzeit begleitet von einer Ausstellung, die das nahe dem Kreml gelegene Staatliche Architekturmuseum den beiden Architekten ausrichtet (Wosdwischenka 5, bis 15. Januar). Unlängst wurde hier der 10. Geburtstag der Architekturzeitschrift, „Project Russia“, gefeiert; nun sind es die Projekte der Büros von Schweger und Tchoban, die internationale Maßstäbe setzen, vorgestellt auf wandfüllenden Fotoleinwänden. Schweger hat in Berlin unter anderem das Haus der Wirtschaft am Mühlendamm entworfen und den Bundesrat um- gebaut, Tchoban das „Cubix“-Kino am Alexanderplatz und das Dom-Aquaree gegenüber der Museumsinsel. Dass Tchoban dabei kein Technik-Fanatiker ist, belegt sein dieser Tage erschienenes Buch unter dem bezeichnenden Titel „Der Kopf des Architekten“, das ihn als hinreißend zeichnenden, am akademischen Erbe seiner Heimatstadt St. Petersburg geschulten Baumeister ausweist (jovis Verlag, Berlin 2005, 192 S., 49,80 €).

Mit dem „Föderations“-Turm rütteln Schweger und Tchoban an technische Grenzen. Die beiden Türme auf dreieckigem, sich verjüngendem Grundriss werden nicht in Stahlskelettbauweise errichtet, sondern als Beton-„Röhre-in-derRöhre“. In drei Jahren soll das Riesenbauwerk fertig gestellt sein und Büros, Luxusappartements – in Moskau nach wie vor höchst profitabel – sowie die Dependance einer globalen Hotelkette aufnehmen.

Weniger glücklich sieht es, von der Manege abgesehen, im unmittelbaren Stadtzentrum aus. Der Abriss des wie die Metro 1935 eröffneten Hotels Moskwa vor dem Roten Platz hat eine schmerzende Wunde geschlagen. Vom versprochenen Neubau in den alten, stalinistisch- neoklassischen Formen ist hinter mehrstöckigen Reklamewänden noch nichts zu sehen. Besser sieht es wenige Meter weiter in der Twerskaja aus, wo anstelle des abgerissenen „Intourist“-Scheibenhochhauses mittlerweile ein dem Maßstab dieser wichtigen Einkaufsstraße angemessener Kubus im Rohbau fertig gestellt wurde.

Abriss und Neubau – das ging zu Sowjetzeiten, das geht auch im Postsozialismus schnell vonstatten. So bleiben etwa die kühnen konstruktivistischen Bauten der Zwanzigerjahre aufs Höchste gefährdet. Etliche sind bereits in einem Verfallszustand, der jede Rettung ausschließt. Im kommenden April soll sich endlich eine Konferenz in Moskau mit der Erhaltung dieses missachteten Erbes beschäftigen, mit dem die Stadt überhaupt erst auf die Landkarte der Moderne gekommen ist.

Mit dem Büroviertel Moscow-City entsteht wieder anspruchsvolle Architektur großen Maßstabs, die nicht – wie zu Stalins Zeiten – im Formenvorrat der Vergangenheit Zuflucht sucht, sondern Anschluss findet an das Baugeschehen „im Weltmaßstab“. Vom „Weltmaßstab“ sprach man schon früher gern – nun darf mit Recht von ihm die Rede sein.

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