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Maxim-Gorki-Theater: Wie das Leben auf der Bühne so spielt

Schauspielerin krank, ein kollabierender Zuschauer: Bei der Premiere von Jean-Paul Sartres "Geschlossene Gesellschaft" im Maxim-Gorki-Theater passiert Unvorhergesehenes.

Selten wird im Theater darüber nachgedacht, wie gut sich Inszenierungen gegen das Unvorhergesehene wappnen. Man erinnert sich an den berühmten Stoßseufzer von Angela Winkler in einer Wiener Zadek-Premiere, „Ich habe die Brosche vergessen!“, woraufhin der Vorhang wieder heruntergelassen und das Requisit besorgt werden musste. Mit solchem Radikal-Naturalismus hat die Regisseurin Felicitas Brucker zwar nichts am Hut, aber den Einbruch der Wirklichkeit musste ihre Sartre-Inszenierung „Geschlossene Gesellschaft“ in mehrfacher Hinsicht verkraften. Begonnen damit, dass zehn Tage vor der Premiere ihre Estelle-Darstellerin erkrankte. Verzagtere Häuser als das Maxim-Gorki-Theater hätten den Abend abgesagt oder verschoben; hier sprang Ninja Stangenberg ein, die noch an der UdK studiert und ab kommender Spielzeit zum Gorki-Ensemble gehört. Ihr gebührt ein Kompliment für die mit flirrend-nervöser Energie geladene Leistung. Nach zwei Dritteln ertönte aus dem Publikum der Ruf, den Theaterkünstler mehr fürchten als das Buh, er lautet: „Ist ein Arzt hier?“ Saallicht an, Spiel aus, ein Kollapsfall. Aber statt dem Abend den Garaus zu machen, wirkte diese Unterbrechung wie ein Adrenalinstoß.

Zuvor fragte man sich noch, ob es Bruckers Regie oder dem Text geschuldet war, dass keine Glut aufkommen wollte. Mag sein, dass Sartres luziferisches Salonkonstrukt keinen Existenzialisten mehr hinter dem Ofen hervorlockt. Das Drama über drei Verstorbene, die sich in einem Second-Empire-Hades wiederfinden und feststellen müssen, dass sie zu ihren eigenen Folterknechten bestimmt sind, wirkt nicht mehr dialogscharf; man ist in der Kunst wie im Leben ganz andere Psychokriege gewöhnt. Aufeinander gehetzt werden der feige Journalist Garcin (Kuchenbuch), der seine Frau gequält hat, die verführerische Kindsmörderin Estelle (Stangenberg), die ihren Geliebten in den Tod trieb, sowie die lesbische Postangestellte Inès (Anja Schneider), die ebenfalls der Liebe wegen gemordet hat. Die drei Untoten entlocken sich ihre Sünden, verstricken sich in erotische Scharmützel. Bei Brucker tun sie das in einer White-Box mit Schaukelbänken und Projektionsrückwand für Videos aus dem Vorleben (Bühne: Ulrike Siegrist), die das Trio dazu einlädt, sich mit weißer Wandfarbe zu beschmieren. „Abwesende“ nennen sich Sartres eingeschlossene Büßer selbst. Das passt hier zunächst. Die Ausweglosigkeit aller Existenz, das Leben als fensterloses Zimmer – solche Motive mögen Theaterleute wegen der Nähe zur eigenen Biografie. Tatsächlich gewinnt die Inszenierung, je öfter die Schauspieler aus der Rolle fallen, sich anarchische Momente erlauben, zumal nach der unfreiwilligen Unterbrechung. Weil auf einmal spürbar wird, dass Sartres Text auch von Schauspielern erzählt, die in einer ewigen Probe ohne Chance auf Premiere gefangen sind. Da bekommen die letzten Worte des Stücks einen schönen Beiklang: „Machen wir weiter.“ Patrick Wildermann

Die nächsten Vorstellungen: 27. 12., 5. 2.; um 19.30 Uhr.

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