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Kultur: Mehr Power als Flower

Als Brasilien seine Seele wiederfand: die Ausstellung „Tropicália“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt

Von Sandra Luzina

Die Schuhe sollte man auf jeden Fall ausziehen, wenn man die Ausstellung „Tropicália“ besucht – dann kann man beim Durchwandern des Labyrinths von Hélio Oiticica den Sand unter den Füßen spüren. Die von Künstlern entworfenen Flower-Power-Kleider möchte man sofort anprobieren, was leider nicht geht. Hineinschlüpfen kann man aber in die Parangolés, farbige Gewänder, die ihre Träger in eine lebende Skulptur verwandeln.

Tropicália, die wichtigste aus Südamerika kommende kulturelle Bewegung der letzten fünfzig Jahre, entstand als Reaktion auf die repressive Politik nach der Machtergreifung der Militärs. Was sich Ende der Sechziger in Brasilien formierte, war eine wilde Explosion von Kreativität. Eine Revolution in Musik, bildender Kunst, Theater und Kino. Die Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt ist (HKW) verwirrend. Verwirrend wie die Bewegung selbst mit ihrem utopischen Überschuss: „Tropicália is whatever is necessary.“

Mit Gilberto Gil hat sich eine der Galionsfiguren des Tropicalismo in Berlin feiern lassen. Morgen wird er, nach seinem triumphalen Auftritt vor zwei Wochen, ein Zusatzkonzert geben, open air vor dem Haus der Kulturen, dem Hauptquartier der brasilianischen Künstler bei der „Copa da Cultura“. Auch als Kulturminister beschwört Gil die sinnliche Kraft der Bewegung: „Tropicália an der Macht kann Gutes bringen: Solidarität, Wärme und Enthusiasmus.“ Der legendäre Sänger Chico Buarque spielt am 16. Juni im HKW.

Dem jungen Gil mit Afro und verwegenem Bart begegnet man in der Ausstellung immer wieder. Er war schon damals eine charismatische Figur, genau wie der androgyne Singer-Songwriter Caetano Veloso. 1968 veröffentlichten sie das programmatische Album „Tropicália ou Panis et Circensis“. Gil und Veloso brachten nicht nur das Establishment, sondern auch die Traditionalisten gegen sich auf. Die Beatles waren ihnen genauso Inspiration wie etwa die Rhythmen aus dem Norden Brasiliens. Die Notwendigkeit künstlerischer Innovation und neuer Denkweisen begründeten sie polemisch: „Ich weigere mich, meine Unterentwicklung zu folklorisieren, um technische Schwierigkeiten zu kompensieren“, sagte Veloso.

Ihren Namen erhielt die Bewegung aber von einer Installation, die Hélio Oiticica 1967 in der Ausstellung „Neue Brasilianische Objektivität“ realisierte und die jetzt auch der Blickfang in der Ausstellungshalle ist. „Tropicália“ eine Konstruktion von begehbaren Holzhütten auf sandigem Grund, offenkundig von der Architektur der Favelas inspiriert. Im Labyrinth gibt es Fernsehen. Und Papageien.

Auch andere Schlüsselwerke der „Neuen Brasilianischen Objektivität“ sind in Berlin zu sehen, ergänzt werden sie von neuen Auftragsarbeiten sowie von historischen Dokumenten: Konzertmitschnitte, Beispiele aus Werbung und Mode. Dokumentiert wir auch die Entstehung der Aufführung „The Candle King“ des Teatro Oficina, das im letzten Jahr bei seinem Gastspiel an der Volksbühne einen kleinen Skandal verursacht hat.

Einer der wichtigsten bildenden Künstler neben Hélio Oiticica und Lygia Pape ist Nelson Leirner. Ein imposanter älterer Herr mit langen grauen Haaren und eine Kette mit Talismanen, die er an jedem letzten Tag des Jahres austauscht. Leirner ist mit älteren Werken wie seiner „Hommage an Fontana“ vertreten, und er hat kurzerhand zwei neue Arbeiten kombiniert: eine Prozession aus Gummitieren führt zu der Installation „Futebol“. Ein ironischer Kommentar zur Fußball-WM. Das Stadion ist umringt von Ikonen: Christliche Heilige stehen friedlich neben Indios und Disney-Figuren. Als Update kamen deutsche Flaggen hin zu.

Bis 9.7., täglich 12 bis 22 Uhr.

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