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Kultur: Meine Ohrfeige

Christoph Müller über den Stolz des Theaterkritikers

Bis dahin hatte sich niemand veranlasst gesehen, mich zu ohrfeigen. Ein Urerlebnis also – für einen immerhin 41-Jährigen. Ich zehre noch heute davon, 26 Jahre nach der finsteren Rache-Tat. Ich hatte den Auftrag, für den „Spiegel“ über die ziemlich katastrophale Spielzeit des Stuttgarter Schauspieldirektors Hansgünther Heyme zu schreiben. Die Überschrift hieß „Die Ruhe eines Kirchhofs“.

Der Zufall wollte es, dass ich zur selben Zeit ein Interview mit gastierenden Theaterleuten aus San Francisco in der Theaterkantine vereinbart hatte. Mir schwante Unheil, als sich im Hintergrund einige über den „Spiegel“-Artikel gebeugte Heyme-Angestellte rotteten. Ein Schauspieler, Jürg Löw, lang und kräftig, löste sich aus der Gruppe, stürzte mit grimmer Miene auf mich zu und scheuerte mir eine: „Für all den Scheiß, den Sie über uns geschrieben haben!“ Bedröppelt schlich ich mich. Die US-Theaterleute wollten gleich zurückschlagen, was ich gerade noch verhindern konnte. Heimgekehrt in meine Tübinger „Tagblatt“-Redaktion und das bewundernd neidvolle Kollegen-Echo im Ohr, sagte ich mir, geschmeichelt über den unverhofften Bedeutungszuwachs: Kurz ist der Schmerz, ewig die Freude!

Gerhard Stadelmaier, bei der „Stuttgarter Zeitung“ damals gerade am Beginn einer ehrgeizigen Karriere, die ihn zur „FAZ“ führen sollte, hatte den von mir zunächst nicht ans Licht der Öffentlichkeit gebrachten Vorfall spitzgekriegt und schrieb eine genießerische Glosse darüber. Von ungeheuerlichen Demütigungen und Verletzungen der Identität – wie jetzt in Stadelmaiers Konterattacke – war darin nicht die Rede. Er sah das seinerzeit wohl eher sportiv. Und vor allem: Es traf ja nicht ihn! Der „Spiegel“ zitierte aus Stadelmaiers nicht gerade hämefreiem Artikel. Das genügte, um als Gezeichneter bis heute ehrfürchtig befragt zu werden, wie ich das denn damals geschafft habe, als der nach dem großen Wiener Spötter Hans Weigel (der nur von zarter Schauspielerinnen-Hand touchiert worden war) erst zweite abgewatschte Kritiker in die chronique scandaleuse des deutschsprachigen Theaters eingegangen zu sein.

Der Schauspieler übrigens hat sich damals bei mir entschuldigt und wurde nicht entlassen. Doch, attention please: Bei Theaterleuten weiß man nie so recht, wann es sich um Kunst oder Leben handelt . Da kann Matthias Lilienthal, der Intendant vom Berliner HAU, noch so inniglich das Gegenteil herbeiwünschen und in die Theaterwelt posaunen, Stadelmaier sei damals der Empfänger jener ominösen Stuttgarter Kantinen-Ohrfeige gewesen: Meine Ohrfeige gehört mir! Und ich gönne den unsterblichen Nachruhm keinesfalls jenem grade mal vorübergehend notizblockberaubten und geschmähten Frankfurter Kritikerkollegen.

Christoph Müller arbeitete von 1960 bis 1968 als Redakteur beim Tagesspiegel. Bis 2004 war er Verleger, Chefredakteur und Theaterkritiker des „Schwäbischen Tagblatts“ in Tübingen.

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