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Kultur: Mensch gegen Material

Kino der Frauen: Sofia Coppolas „Lost in Translation“ fordert bei der heutigen 76. Oscar-Zeremonie den Favoriten „Herr der Ringe“ heraus

Da ist der Kampfelefant, ach was: das Monster-Mammut. Mit seinem Halbdutzend riesigen Stoßzähnen mäht es ganze Armeen nieder, und auf seinem gepanzerten Rücken schaukeln die Bösewichte in die Schlacht. Zu reden gibt es nichts, Gesichter zu zeigen noch weniger, alles ist wogendes Toben. Also her mit Musik zu den Bildern, her mit dem Dauerdröhnen aus den Tiefen von Mittelerde bis hinauf in den blassen Himmel. So tritt Peter Jacksons „Herr der Ringe“ bei den Oscars an: Bilderbrockenschleuderer. Allseitig schweres Übergewicht. Menschgebliebene Überwältigungsmaschine.

Es geht auch anders. Wo die „Ringe“-Katapulte ganze Felsmassive verschleudern, genügt eine elegante Ausweichbewegung, und der ganze pathetisch-deklamatorische Hokuspokus läuft ins Leere. Keine weißhaarigen, weißgewandeten Schneekugel-Zauberer stehen im Bild herum, sondern jemand zaubert zwei Menschen wie aus Fleisch und Blut auf die Leinwand, lässt sie sprechen und schweigen und lachen und lieben. Musik? Auch. Aber keine, die uns zu den Fahnen ruft. So steigt Sofia Coppola mit „Lost in Translation“ auf die Oscar-Bühne: Geschichtenerfinderin. Zart, aber auch zäh. Verletzlich und doch sehr vital.

Wenn es denn ein Duell gibt bei dieser 76.Oscar-Nacht, eines, das nicht an der Rampe, sondern auf der viel wichtigeren Hinterbühne unserer langfristigen Kino-Vorlieben ausgetragen wird, dann dieses: Menschenkino gegen Maschinenkino. Davida gegen Goliath. Zugespitzt: das Kino der Frauen gegen jenes der Männer. Hier der kleine, billige, intelligente und sensible Autorenfilm, der die Herzen der Menschen eins nach dem anderen und zugleich im Sturm erobert. Dort das fraglos imponierende Siebenjahreprojekt eines mit der US-Studio-Factory verbandelten Neuseeländers. Die allweihnachtlich generalstabsmäßig ins Kino marschierende Fantasy-Trilogie. Das Hochamt für Millionen von Hobbit-Fans. Und, nicht zu vergessen, der Weltkassenknüller.

Schon deshalb muss Jackson heute endlich gewinnen. Zweimal hat die 5800 Mitglieder zählende Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAA) die zunächst brillant, dann solide nominierten „Ringe“-Filme in Sachen Top-Trophäen schon verschmäht – nun aber, da die rund 300 Millionen Dollar teure Trilogie auf dem Wege ist, weltweit drei Milliarden Dollar einzuspielen, darf der filmindustrielle Haussegen nicht länger schief hängen. Und doch könnte dieses Kino, das mit seinen perfekten Special Effects und seiner ebenso perfekten Verwertungsmaschinerie monumental auf Zukunft setzt, schon von gestern sein. Denn es ist, wenn man von den seltsam pergamentenen Hautoberflächen seiner Figuranten und ihren wie computergenerierten Dialogen absieht, ein schauspielerloses. Nicht gleich ein unmenschliches, aber eben: ein nicht menschliches.

Gleich die drei meistnominierten Filme dieser Oscar-Runde gehen ohne Schauspieler-Nominierungen an den Start: So etwas hat es, wie „Variety“ nachgerechnet, nur 1962 und 1969 schon gegeben. Zwar konkurrieren Jacksons „Ringe“ (11 Nominierungen), Peter Weirs kühl-klares Seekriegsabenteuer „Master and Commander“ (10) und Gary Ross’ Rennpferd-Rührstück aus der Großen Depression, „Seabiscuit“ (7), allesamt um die Königsdisziplin als bester Film – die restlichen Ehren aber gelten allein Ausstattung und Show. Irgendwie fad, oder? Andererseits haben sich die Academy-Mitglieder diesmal die „Screener“-Ansichtskassetten besonders sorgfältig angesehen und so viele Schauspielerleistungen entdeckt wie kaum je zuvor: Immerhin fächern sich die 20 Darstellernominierungen auf sagenhafte 14 Filme auf. Und das macht die Sache wieder spannend.

Eine Trotzreaktion, kann sein. Schließlich war der Versuch der Academy-Leitung und großer Studios im November, aus Angst vor Video-Piraterie keine „screeners“ mehr zu verschicken, vor allem als Schuss gegen die kleineren Filme gedeutet worden, die sich breite Kinostarts nicht leisten können – prompt wurde der Vorstoß gerichtlich kassiert. Dafür beeindruckt nun, wie differenziert die knapp 1300 Schauspieler, größte Kreativfraktion in der Academy, bei ihren Nominierungen fündig geworden sind. Ihr Votum wiegt zudem schwer bei der schriftlichen und anonymen Plenums-Wahl. Und ihr Votum gilt, mehr denn je, den Frauen und ihren Filmen.

Nicht nur, dass Sofia Coppola in der Oscar- Geschichte überhaupt erst die dritte nominierte Regisseurin ist (die Vorgängerinnen in dieser Disziplin heißen Lina Wertmüller und Jane Campion); auch Diane Keaton (in Nancy Meyers’ „Was das Herz begehrt“), Charlize Theron (in Patty Jenkins’ „Monster“), Holly Hunter (in Catherine Hardwickes „Dreizehn“) oder Keisha Castle-Hughes (in Niki Caros „Whale Rider“) sind in Filmen von Frauen nominiert. Man muss ja nicht gleich den berühmten Paradigmenwechsel ausrufen – aber hat das Kino, auch wenn es diesmal noch Peter Jackson freundlich abfeiern dürfte, nicht zutiefst genug von den präpubertären Jungsfilmen, den durchvirtualisierten Materialschlachten und dem stets spiel-, wort- und sinnarmen Tohuwabohu?

Natürlich sind auch die Oscars selbst eine Materialschlacht. Schon das Wissen darum, dass bereits die Nominierungen wie ein positiver Elektroschock auf Kopienzahl und Umsätze wirken und jeder Oscar-Durchmarsch, wie US-Wissenschaftler akribisch ermittelt haben, im Schnitt 25 Millionen Dollar mehr an der Kasse bringt. Und erst die Zeremonie selber: ein Vierstunden-Monumentalfilm, die Werbeblocks mit 30-Sekunden-Spots zu jeweils 1,5 Millionen Dollar eingerechnet. The greatest show on earth („Washington Post“) wird immerhin für eine Milliarde Menschen in 100 Ländern live übertragen.

Nunja, fast live. Um die Ankündigung des Senders ABC, das Ereignis um fünf Sekunden zeitversetzt zu übertragen, hatte es zuletzt einige Aufregung gegeben. Der Academy-Präsident Frank Pierson witterte sogleich generell Zensur; Oscar-Zeremonienmeister und Filmproduzent Joe Roth wiegelte ab und betonte, ausschließlich „Flüche und Nacktheit“ sollten damit programmatisch ausgeblendet werden – pure Vorsichtsmaßnahme nach dem „Nipplegate“-Zwischenfall unlängst beim Super Bowl, als Janet Jacksons entblößte rechte Brust 90 Millionen Amerikanern live serviert worden war. Ausdrücklich also keine politische Zensur: Ein Bush-Gegner wie Sean Penn soll, wie letztes Jahr Michael Moore, gegen den Präsidenten wettern dürfen?

„Expect the Unexpected“ heißt das Motto der Gala – und absehbar spannend dürfte es diesmal gerade bei den Oscars für den männlichen Hauptdarsteller werden. Sean Penn, der noch die Golden Globes schwänzte, aber nach drei Nominierungen seinen ersten Oscar nicht verschmähen dürfte, steht nicht nur für überraschende individuelle Auftritte, sondern vor allem für den klassisch soliden Oscar Kandidaten „Mystic River“: Clint Eastwoods packendes Drama um drei traumatisierte Jugendfreunde tritt nicht nur in den Königsdisziplinen Best Motion Picture of the Year und Regie, sondern mit Penn, Marcia Gay Harden und Tim Robbins in gleich drei Schauspieler-Kategorien in den Ring. Sean Penns schärfste Konkurrenten sind der „Fluch der Karibik“-Pirat Johnny Depp, vergangenen Sonntag durch seinen Sieg bei der Screen Actors Guild überraschend vorgeprescht, und Bill Murray. Ob der sanfte Komiker, der in „Lost in Translation“ auch im melancholischen Fach zu brillieren versteht, seinen ersten Oscar holt? Den Oscar der Herzen, nennen wir ihn mal so, hat er längst gewonnen: den der Männer und der Frauen.

Die Oscar-Zeremonie wird heute Nacht ab 1 Uhr von Pro7 übertragen. Zunächst Countdown am roten Teppich (mit Anke Engelke), um 2 Uhr beginnt die von Billy Crystal moderierte Zeremonie selbst. In den Werbepausen: „taff“-Moderatorin Miriam Pielhau

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