zum Hauptinhalt

Kultur: Messies in Weimar

Renaissance für Brecht: Ben Becker spielt „Baal“ – und Hannover digitalisiert die „Dreigroschenoper“

Wenn mehr Jungen als Mädchen geboren werden, sagten früher die Alten, dann gibt es Krieg. Wenn die Theater Brecht spielen, dann ist: Krise. Derzeit erlebt der Mann mit der Zigarre, der vor ein paar Jahren, zum 100. Geburtstag, zu Tode abgefeiert schien, eine kräftige Renaissance. Al Pacino spielt „Arturo Ui“ in New York und erinnert daran, dass auch Demokratien „Schurkenstaaten“ sein können. Claus Peymann bereitet für Januar am Berliner Ensemble, Brechts Alterssitz, „Die Mutter“ vor, und Peter Zadek, dem eigentlich eine Brecht- und Berlin-Phobie nachgesagt wird, will 2003 „Mutter Courage und ihre Kinder“ am Deutschen Theater Berlin auf die Bühne bringen.

„Da kannst du was lernen“, heißt es in der „Dreigroschenoper“. Während Bertolt Brecht im deutschsprachigen Raum lange mit der eigenen Tradition stranguliert wurde, hat die Dritte Welt seine Stücke stets als politisches Spielmaterial benutzt. Dort gilt er nach wie vor als aktuell – auch weil man nichts anderes kennt. Als Roberto Ciullis Theater an der Ruhr im April dieses Jahres mit Mackie Messer & Co. in Bagdad gastierte, traf er auf ein Brecht-geschultes Publikum. Möglich, dass René Pollesch mit seinen Globalisierungs-Sprechopern, die man als Kritik am amerikanischen System lesen kann, einmal in B. B.’s riesige Fußstapfen tritt.

Brecht, der Klassiker. Dagegen wird neuerdings heftig angespielt. Ein Dramatiker ist wiederzuentdecken. Am Schauspiel Hannover hat der junge Regisseur Nicolas Stemann die „Dreigroschenoper“ auseinandergenommen, wie es vor kurzem noch nicht vorstellbar gewesen wäre. Die einst so hartleibigen Brecht-Erben sehen das jetzt wohl lockerer. Stemann, der immer nur die big points macht (die „Orestie“ zum Beispiel oder den „Hamlet“, mit dem er beim Berliner Theatertreffen war), stellt sich dumm: „Dreigroschenoper“? Nie gehört.

Im Grunde war Brechts „Verfremdung“ immer nur eine Technik, um dem Theater jene Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, die es an andere Medien zu verlieren droht. Stemann hat das verstanden. Er zeigte den alten Brechtianern, was eine Harke ist. Und tatsächlich: „Da kannst du was lernen.“ Auf der großen Hannover’schen Bühne läuft das komplette Vorspiel zur „Dreigroschenoper“ einschließlich der „Moritat von Mackie Messer“ über ein elektronisches Schriftband, stumm. Keine Musik, keine Mimen. Nur blinkende Wörter im Vorüberziehen, als wären es Börsenkurse. „... die im Dunkeln sieht man nicht ...“: Da haben sich endlich die ersten Schauspieler auf die finstere Spielfläche geschlichen. Ein guter Gag.

Stemann bleibt konsequent – die Obertitel laufen bis zum Ende durch. Wozu braucht man noch eine Souffleuse, wenn der Text dick und fett auf der Bühne steht! Und wozu braucht man Rollen! Drei Schauspieler probieren herum, teilen sich den Gangsterkönig Macheath (und den korrupten Polizeichef Tiger Brown) , einer von ihnen spricht mit rauem russischen Akzent. Polly ist eine Japanerin, sie bringt Brechts oft nur angelesene Exotik wunderbar zum Klingen. Ganz weit hinten, durch Drehtüren verdeckt, sitzt die traditionelle Kurt-Weill-Combo: Auch der Komponist kriegt sein Fett weg. Stemann setzt die „Dreigroschen“-Hits als alberne TV-Schlagerparade in Szene, mit eingespieltem Applaus vom Band.

Stemanns Stärke ist zugleich seine Schwäche. Weil sich die Inszenierung durch und durch essayistisch gebärdet. Der Clou mit dem digitalisierten Text erschöpft sich lange vor Ablauf der drei Stunden, und die Regie muss nachlegen. Vor dem Leuchtbild eines vielleicht schon verhungerten afrikanischen Kindes marschieren Demonstranten mit Parka und dämlichen Parolen auf. Nieder mit dem altlinken Pathos, das ja gerade in den Theatern noch seine Hochburgen hat, demonstriert Stemann – und zelebriert die Ohnmacht der Bühnenkunst. Aber hat das nicht auch schon Brecht 1928 so gesehen, als ihm mit der „Dreigroschenoper“ ein Welterfolg unterlief? Erst kommt die Kunst, dann die Moral. Und das grosse Fressen geht sowieso weiter in der Welt.

Brecht in Weimar: der Klassiker im Städtchen der Klassiker. Goethe und Schiller stehen vor dem Deutschen Nationaltheater zwischen den Weihnachtsmarktsbuden wie Gullivers bei den Liliputanern. Weimar ist in aller Munde – weil sich manch ein politischer Beobachter nach dem Pathos der Weimarer Republik nachgerade zurückzusehnen scheint und eine Handvoll Bühnengewerkschafter neulich so mutig waren, ihr Theater zu bestreiken, in diesen Zeiten!

Ein guter Boden für „Baal“. Brechts Erstling von 1918 feiert den von der Gesellschaft gefesselten Übermensch; da steckt noch viel vom ungeliebten Weimaraner Nietzsche drin. Ben Becker stemmt „Baal“: eine bizarre Prominenten-Produktion des Nationaltheaters. Mit dem Berliner Kraftmeier treten auf: der Musiker Blixa Bargeld mit Hut und der Ex-Fußball-Profi Jimmy Hartwig mit Saxofon. Der Schauspieler Thomas Thieme hat dieses Kumpelnest gebaut. Es ist Thiemes zweite Regie in Weimar, nach dem „Faust“ im Goethe-Jahr, wofür er den Bayerischen Theaterpreis bekam.

Die Bühne ist eine elende Matratzengruft, Baal produziert sich als weinerlicher, supereitler Rockstar. Ein Messie in Weimar. Viel nacktes Fleisch: Die Groupies ziehen schneller die Höschen runter, als sie ihren Namen sagen können, leider sind die Mädels alle ein bisschen fad. Viel Lärm um nichts: Becker, mit Damenunterrock, Brecht-Zigarre und immer einer Flasche Bier, trägt seinen blanken Bauch spazieren, fährt sich pausenlos durchs Haar, röhrt an der Rampe und lässt halt mal wieder so richtig die Sau raus. Jimmy Hartwig (als Fabrikant und Kabarett-Chef) macht nicht die schlechteste Figur in der Freak-Show – jedenfalls schlägt er sich besser als Blixa Bargeld, den die Regie erstaunlicherweise als Schauspieler (Baals Kumpel Ekart) einsetzt und kaum einmal als Brecht-Sänger.

Regie? Das ist hier ein allzu großes Wort. Thieme, Becker & Co. haben auf den Proben (eine Brauerei war Sponsor) sicher einen Heidenspaß gehabt, das Publikum in Weimar hielt’s für eine avantgardistische Zumutung. Jubel! Da kannst du auch was für die Zukunft lernen: Brecht ist immer für ein Missverständnis gut. Jetzt lässt er, wie Shakespeare, endlich alles mit sich machen. Das Chaos ist doch nicht aufgebraucht.

Rüdiger Schaper

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false