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Der Schriftsteller Michael Kumpfmüller, 58

© Joachim Gern/Verlag

Roman über die letzten Tage von Virginia Woolf: Michael Kumpfmüllers "Ach, Virginia"

"Ach, Virgina": Michael Kumpfmüllers überaus missglückter Roman über die letzten Tage im Leben der Schriftstellerin Virginia Woolf.

Kaum ein Genre scheint derzeit so beliebt zu sein wie das der biografischen Prosa. Ob Beethoven oder Hölderlin, Jahr für Jahr gibt es passende Jubiläen, um aus dem bewegten Leben eines Großmeisters erzählen zu können. Anrührende oder auch frivole Anekdoten über Berühmtheiten kommen beim Publikum gut an, und oft profitieren die Autorinnen und Autoren von der Popularität der porträtierten Idole.

Bei einer weltberühmten Schriftstellerin und Ikone der Frauenbewegung sollte der Erfolg sich wie von selbst einstellen. Oder eben nicht. W

enn nämlich das literarische Konzept nicht aufgeht, die sprachlichen Mittel nicht angemessen sind, der Unterschied zwischen Vorbild und Abbild zum ästhetischen Abgrund wird.

Der Berliner Schriftsteller Michael Kumpfmüller hatte sich 2011 mit dem Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“ schon einmal an einen Mythos herangewagt, an Franz Kafka und dessen letztes Lebensjahr mit seiner Geliebten Dora Diamant. Das Wechselspiel zwischen distanziertem Ton und fiktiver Einfühlung, zwischen Recherche und Korrektur des gängigen Kafka-Bildes überzeugte.

Das Drama spielt im März 1941

In „Ach, Virginia“ (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 236 Seiten, 22 €.) erzählt Kumpfmüller nun die zehn letzten Tage von Virginia Woolf. Über deren Leben lässt sich vieles nachlesen, nur über die unmittelbare Zeit vor dem tragischen Suizid ist weniger bekannt, weil Woolf sich nicht mehr dem Tagebuch anvertraut hat und nur noch wenige Briefe schrieb.

Kumpfmüller schildert eine Frau in einer großen Schreib- und Sinnkrise. Sie litt unter einer Depression, fühlte sich von Stimmen verfolgt und konnte zeitweise nicht mehr zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden. Der Biograf lässt seine traurige Heldin auf Leben und Werk zurückblicken.

Dabei drehen sich die Gedanken immer wieder um jene Männer, die ihr „Fluch“ gewesen seien. Geprägt von einem sexuellen Übergriff in der Jugend, fühlt sie sich zeitlebens eher zu Frauen hingezogen, dennoch heiratet sie einen Schriftsteller, den sie nicht liebt.

Kumpfmüller beschreibt Woolfs Gefühllosigkeit und Gehässigkeit gegenüber dem Gatten anschaulich. Dieser erträgt alles wacker und umsorgt sie bis zuletzt.

Das Drama spielt im März 1941, deutsche Bomber fliegen über das Cottage in Südengland, und die Gefahr einer Invasion der Nazis lässt den Seelenzustand Woolfs sich weiter verschlechtern. Die personale Erzählstimme versucht, diese bedrohlichen äußeren Umstände mit dem ohnehin zerrütteten Innenleben der Protagonistin zu verbinden.

Dabei gibt es einige sehr glaubhafte Momente, vor allem wenn Woolf über ihren Mann herzieht.

Warum bloß wurde dieses Buch geschrieben?

Doch immer unklarer wird, ob sich Kumpfmüller in einen labilen Charakter hineinfühlen oder über sich selbst schreiben möchte. Diese Widersprüchlichkeit drückt sich oft durch eine leichte Verschiebung der Erzählperspektive in einem einzigen Satz aus: „Es fällt ihr nichts Neues mehr zu sich ein, und deshalb wird sie nicht mehr schreiben, da man im Grunde ja immer bloß über sich schreibt, auch wenn man über ein Gewitter in einem Garten schreibt.“

Abgesehen davon, dass es zweifelhaft ist, so einfältige Gedanken einer Autorin unterzuschieben, die keineswegs nur über sich selbst geschrieben hat, fällt auf, dass im Kausalsatz aus dem personalen „sie“ ein unpersönliches „man“ wird, hinter dem wohl weniger die Protagonistin Woolf als der Schriftsteller Kumpfmüller steckt.

Es stellt sich bald die Frage, warum dieses Buch überhaupt geschrieben wurde. Als Depressionsroman funktioniert „Ach, Virginia“ genauso wenig wie als Drama einer Schriftstellerehe. In beiden Fällen fehlen Tiefe und Originalität. Ginge es nicht um die berühmte Autorin von „Mrs Dalloway“, die beschriebenen Alltagsbanalitäten verkämen schnell zur narrativen Nullaussage: „Nicht zum ersten Mal fällt ihr auf, dass Leonard beim Essen unangenehme Geräusche macht.“ Wen interessiert denn das?

Hier gibt es Formulierungen zum Fremdschämen

Zum Fremdschämen sind Formulierungen, die zwischenmenschliche Beziehungen beschreiben sollen. Über die Schriftstellerin Vita Sackville-West, zu der Woolf lange eine Liebesbeziehung unterhielt und die Vorbild für die Titelfigur in ihrem Roman „Orlando“ ist, heißt es an einer Stelle: „Vita war das Wunder und die Pein ihres Lebens, das Versprechen, das sich nicht erfüllt hat“, denn Vita „liebte Frauen, alle möglichen Frauen vor und nach ihr, sie schlürfte die Frauen wie Austern.“

Wie kommt Kumpfmüller auf solche schrägen, abgedroschenen Vergleiche? Wenn er in den Tagebüchern oder Briefen Virginia Woolfs auf derlei gestoßen ist, wäre es redlich, diese Verweise zu markieren. Sind es Kumpfmüllers Erfindungen, zeigt sich wiederum das Zweifelhafte dieses Projekts. Welchen Sinn soll derlei plakative Bildsprache haben, die im Grunde unverständlich bleibt: Geht es um die Geschwindigkeit, die bloße Menge des Austernkonsums oder um die Geräusche beim Schlürfen? Kurzum: Was will uns der Autor sagen?

Tatsächlich wird aus Virginias Abschiedsbrief an Vita zitiert. Obwohl Woolf meint, Stimmen zu hören und nicht mehr klar denken zu können, sind die Zeilen emotional, schön und präzise. Mit wenigen Worten stellt sie eine Nähe zu Vita her, die Kumpfmüller literarisch nur simulieren kann. Doch mit ergänzenden Floskeln wie „mal ehrlich“ oder „Ja, ja, na gut“ verspielt er seine Glaubwürdigkeit als Erzähler. Über Virginia Woolf heißt es hier tatsächlich, sie würde es „lieben“, „Leute bis auf die Knochen auszuziehen“. Dieser Roman ist im Wortsinn ein Machwerk, und zwar leider ein besonders schlecht gemachtes.

Carsten Otte

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