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Dritter Blick: Zwischen 1989 und 2012 hat Ruetz immer denselben Landschaftsausschnitt vor seinem Haus fotografiert. 2720 Aufnahmen sind so entstanden.

© Michael Ruetz

Michael Ruetz im Museum für Fotografie: Kosmos und Chiemgau

Das Drama der Zeit und die „absolute Landschaft“: Michael Ruetz zeigt im Museum für Fotografie seine überwältigenden Aufnahmen aus dem Chiemgau.

Die Helmut-Newton-Stiftung lockt gewohnt glamourös mit „Sex and Landscapes“, vom Meister fotografiert. Weibliche Modelle posieren auf Felsen in Malibu oder rekeln sich nackt im Gestrüpp. Oben, im Kaisersaal, punktet das Museum für Fotografie mit einem ähnlich klingenden Kontrastprogramm: „Michael Ruetz: Die absolute Landschaft“.

Landschaft pur? Könnte man denken. Aber eigentlich „geht es um Weltraumfotografie“, wie Michael Ruetz erklärt, was zunächst überrascht. Doch bei Ruetz reicht der konzeptuelle Rahmen immer übers einzelne Bild hinaus. Er fotografiert in Serien, und in der Reihe öffnen sich neue Horizonte. Die Landschaft spiegelt den Kosmos? Wer sich Zeit nimmt und die Bilder betrachtet, erkennt das recht schnell.

Fast buchhalterisch hat Ruetz die Aufnahmedaten der Fotos fixiert. Vitrinen mit Notizbüchern, Negativen und Kontaktabzügen sind Teil der von der Kunstbibliothek initiierten Ausstellung. Ja, sagt Ruetz, Claude Monets gemalte Variationen der Kathedrale von Rouen (1892–94) hätten sein Schaffen beeinflusst, „aber leider, leider hat Monet weder Jahres- noch Tageszeiten der Bilder notiert“. Das wäre ihm nicht passiert. „Ich bin ein großer Freund der Dokumentation.“ Auch an der Kamera gehört er zu denen, die mit Engelsgeduld abwarten, aufzeichnen, auswerten, anstatt sich ins Geschehen zu stürzen (früher, als er noch Ex-„Stern“-Fotograf war, war das anders).

Zwischen 1989 und 2012 hat Ruetz von seinem Haus im Chiemgau aus immer denselben Landschaftsausschnitt fotografiert, auf hoch aufgelösten 4x5-Negativen und -Dias. 2720 Aufnahmen sind entstanden, 60 davon, vorwiegend im Breitformat vergrößert, sind in der Ausstellung zu sehen. Ruetz’ Akribie geht nicht so weit, dass er die Bilder chronologisch präsentieren würde, vielmehr setzt er auf größtmögliche Kontraste. Wie man sich durch ein und dieselbe Landschaft zappen kann? Das gibt es nur hier.

Sonne knallt, Neben wallt, Blitze zucken

Der Bildausschnitt ist 60-mal gleich: Von einer sanft abfallenden Anhöhe schweift der Blick über Tal, Bauernhäuser und Waldstücke. Ein Gebirge zieht sich nahezu über den gesamten Hintergrund. Jedes Bild ist so aufgebaut. Das ideale Setting für eine gediegene Heimatserie, könnte man meinen. In Wahrheit spielt sich hier ein Drama ab: das der Zeit, die fliegt und unfassbare Sprünge macht.

Die Jahreszeiten wechseln, die Landschaftsfarben, das Licht, die Witterung. Eigentlich logisch. Wir wissen das, aber sehen es normalerweise nicht. Nur in der komprimierten Ansicht ist es wahrnehmbar. Schäfchenwolken treiben, die Sonne knallt, Cumuluswolken ballen sich, Nebel wallen, Blitze zucken – und auch mal ein Silvesterfeuerwerk. An klaren Wintertagen erkennt man jedes Detail, bei hoher Luftfeuchtigkeit setzt die Natur malerische Akzente. Und im Abendrot wirkt das Land wie schwarzes Papier, in das jemand eine Bergsilhouette gerissen hat, nur der Himmel glänzt mit orange-violettem Farbenspiel. Bild für Bild klappt sich in der Serie – die 2008 als Bildband „Eye on Infinity“ erschienen ist – eine immer neue Welt in der altbekannten auf.

„Sichtbare Zeit“ hieß eine Ruetz-Ausstellung 1996 im Deutschen Historischen Museum. Zu sehen waren Bilder des Ex-Fotoreporters und Documenta- 72-Teilnehmers aus der Zeit der Apo, aus der DDR der 60er und 70er Jahre oder von Akteuren und Antagonisten des Prager Frühlings. Solche Einzelbilder ließen bereits spüren, wie Zeit verstreicht. Doch Ruetz erfand eine Verstärkermethode. Ab den 70er Jahren entwickelte er Serien wie „Timescape“ und „Der zweite Blick“, bei denen er Gesichter, Interieurs und vor allem Orte mehrmals, in zeitlichen Abständen, fotografierte.

Langzeitstudien von Gesichtern finden sich auch in Roman Opalkas täglichen Selbstporträts und Herlinde Koelbls „Gesichtern der Macht“. Doch was Städte und Landschaften angeht, hat kein Fotograf vor Ruetz das Verfahren so konsequent vorangetrieben. Eugène Adgets um 1900 entstandene Paris-Bilder sind zwar berühmte Beispiele für die urbane Metamorphose – aber nur aus dem Blickwinkel der Nachwelt. Adget hatte einen zweiten oder dritten Blick auf das historische Zentrum weder geplant noch realisiert. Ruetz hingegen präsentierte mit „Eye on Time“, einem Buch und seiner gleichnamigen zweiten DHM-Ausstellung, 2007 und 2008 geradezu schwindelerregende Mutationen Berlins.

Irrwitz von Zeit, Zufall und Zerfall

Inzwischen haben sich andere Profis und viele Amateure im Zeitsprung geübt. Dass er nicht früher erfunden wurde, hat auch politisch-gesellschaftliche Hintergründe. Mit dem Zusammenbruch der großen Utopien etablierte sich ein neues Zeit- und Lebensgefühl. Gerade Ruetz’ Serien vom Brandenburger Tor und Potsdamer Platz zeigen, wie wenig man Zukunft planen kann. Kontrolle war gestern, der Irrwitz von Zeit, Zufall und Zerfall kann allerdings genossen werden, als ästhetisches Ereignis. Und wer im Kino Richard Linklaters Meisterwerk zwischen Spielfilm und Langzeitdoku „Boyhood“ genossen hat, für den ist Ruetz’ ähnlich gelagerter Bilderbogen ohnehin ein Muss.

Im Chiemgau-Projekt „Timescape 817“ erweitert sich Ruetz’ Zeitmaschinenkunst ins Kosmische. Fotografie als Wissenschaft: „Ich wollte erforschen, ob an einem Ort der Welt so viele Lichterscheinungen und kosmische Ereignisse stattfinden wie überall sonst“, erklärt er. Das Experiment, das mit dem Auszug aus dem Haus am Hang endete, ist geglückt. Verblüffend der – man möchte sagen: kopernikanische – Perspektivwechsel, der sich dem Betrachter unmittelbar zeigt: Die Wetterwechsel signalisieren die Bewegung im Weltraum. Denn nicht nur die Zeit rast, auch der Ort bewegt sich, die Erde kreist um die Sonne, die Planeten schießen durchs All. Was im verschlafenen Tal niemand merkte, hat Michael Ruetz mit der Kamera sichtbar gemacht.

Bis 5. Oktober, Museum für Fotografie, Jebensstraße 2, Di–Fr 10–18, Do 10–20, Sa+So 11–18 Uhr

Jens Hinrichsen

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