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Missbrauch an der Odenwaldschule: Der Bericht eines Opfers

Bericht eines geschändeten Kindes: Jürgen Dehmers über den sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule – und über dessen Verschweigen

Wer die Internetseite „odenwaldschule.de“ aufruft, wird zunächst „herzlich willkommen“ geheißen. Die Schule wird da beschrieben als „keine Massenlernanstalt, sondern ein behaglicher Ort“. Es folgen die üblichen pädagogischen Versprechen im Worthülsenformat: „Dem Einzelnen gerecht werden“, „Gemeinschaft erleben und gestalten“ und dergleichen mehr.

Von dem Skandal des Jahres, dem massenhaften Missbrauch an der Schule zwischen 1960 und 1990 – mindestens 132 Kinder, vermutlich sehr viele mehr – kein Wort. Liest man das Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien?“ des einst geschändeten Jürgen Dehmers (ein Pseudonym), klingen „behaglicher Ort“ oder „das Aufgehobensein in einer strukturierten Gemeinschaft“ wie Hohn. Wie konnte diese Schule ihr Hundertjähriges überhaupt feiern wollen, wenn draußen die Opfer jahrelangen Missbrauchs sich durch Therapien und den Alltag quälen, weil sie die Bilder ihrer verwüsteten Kindheit nicht loswerden?

Jürgen Dehmers war ein 12-jähriges Kind, das von seinen überforderten Eltern in die Odenwaldschule gegeben wurde. Sein Quäler war ein in der Republik gefeierter, sogenannter Reformpädagoge. Gerold Becker, Lebensgefährte des ebenso berühmten Hartmut von Hentig und Freund vieler angesehener Zeitgenossen, die einem ironisch „protestantische Mafia“ genannten Netz angehörten, unter anderen Hellmut Becker, der Gründer des MPI für Bildungsforschung in Berlin, die Weizsäckers oder Marion Dönhoff.

Dehmers war ein hübscher Knabe, der sehr bald von dem pädophilen, der Autor schreibt „pädokriminellen“, Gerold Becker sexuell belästigt, verfolgt und vergewaltigt wurde – drei Jahre lang. Als er einmal drei Monate in England verbringt, schreibt ihm Becker 60 Briefe, um ihn aus der Ferne in Schach zu halten. Mit 16 war Dehmers groß und kräftig genug, sich zu wehren. In der Zwischenzeit war er zum Alkoholiker, Kiffer und Raucher geworden – alles, was betäubte war gut.

Seine Schulzeit in den 80er Jahren verbrachte er bis zum Abitur in einem Umfeld, das moralisch und pädagogisch verwahrlost zu nennen eine Untertreibung ist. Alkoholisierte Kinder, gequälte Kinder, missbrauchte Kinder. Lehrer – es ist wichtig zu betonen, dass es nicht allein der Schulleiter Becker war, sondern immerhin 18 Lehrer zwischen den 60er und 90er Jahren als Sexualtäter unterwegs waren –, die in viel zu großer Nähe mit ihren Schülern in Familien lebten und Mobbing, Missbrauch und Alkohol nicht Einhalt geboten.

Wie kann übersehen werden, dass Kinder ständig betrunken sind? Wie können Quälrituale geduldet, wie konnte so massenhaft zum Missbrauch geschwiegen werden? Wie konnten die Zeichen, die missbrauchte Kinder aussenden, wie ihre Veränderungen ignoriert werden?

Die moralische Verkommenheit äußerte sich darin, dass sich außer den Kindern fast niemand daran störte. Becker, Dehmers beschreibt das unverschnörkelt, näherte sich ihm im Duschraum oder setzte sich auf sein Bett und manipulierte dem 13-Jährigen den Penis und, wenn der sich wegdrehte, den Anus. Der Autor teilte sein Zimmer mit einem anderen Schüler. Mitwisserschaft war zwangsläufig. Die missbrauchten Kinder fühlten sich wie tot und irgendwie schuldig. Entkommen war unmöglich, darum der ständige Rausch, den sich der Autor antrank.

Die Frage, die einen bei der Lektüre dieses lauten Schreis am meisten umtreibt, bleibt aber, warum das Elend der Kinder niemand interessierte? Warum die Eltern und die Pädagogen ihre Kinder so jämmerlich allein ließen. Die Regellosigkeit der Schule, die hier beschrieben wird, ist eine Antwort. In ihr gilt die Macht des Starken, des Übervater-Schulleiters, der Lehrer, die gleichzeitig als „Familienoberhäupter“ fungieren, auch der kräftigen (älteren) Schüler. Sie sind die Starken. Hinzu kommt die allgemeine Bagatellisierung der „Sache“, auch nachdem die Übergriffe 1998 der Schule vorgetragen wurden. Das Totschlagsargument damals war: „Wenn Ihr das öffentlich macht, schließt ihr die Schule.“

Das Versagen der Eltern ist, so beunruhigend es sein mag, leichter zu erklären. Die eine Hälfte der Kinder, wie auch der Autor, waren Jugendamtskinder. Wer sollte sich schon für sie verwenden? Die Eltern der sogenannten Oberschichtskinder waren entweder dem Ruf der Schule und ihres Repräsentanten Becker verfallen oder fielen offenbar in die Kategorie Wohlstandsverwahrlosung. Die Mittelschicht war eher nicht vertreten.

Doch nicht nur die Odenwaldschule und ihre Leitung haben sich nicht für die traumatisierten Schüler interessiert, die Öffentlichkeit auch nicht. 1999 gingen der Autor und ein Freund mit ihrem Material an die Presse. Die „Frankfurter Rundschau“ druckte den berühmten Artikel „Der Lack ist ab“ zum Missbrauch an dem Internat und es passierte: nichts. Und dann kam 2010 die Hundertjahrfeier und die Opferkinder traten wieder an die Presse und dieses Mal ging es Schlag auf Schlag. Ein Rätsel bleibt, warum der Missbrauch 2010 wie eine Bombe einschlug, aber 1999 niemanden interessierte.

Wird Kinderpornografie publik, sind Ämter, Abgeordnete und „Bild“ meist schnell zur Stelle. Bei einem Mann wie Gerold Becker versagten indes alle Kontrollen, ihm fiel niemand in den Arm, nicht der Vertrauensrat, nicht die Kollegen, nicht die Behörden, nicht die Eltern, obwohl seine Umtriebe in der Odenwaldschule den wenigsten unbekannt waren.

Dem drei Jahre lang missbrauchten Dehmers ist ein erschütterndes Dokument zu einer aus dem Ruder gelaufenen Pädagogik gelungen, die nach der perversen Logik arbeitete, dass die Schule den Interessen der Erwachsenen und ihrer verquasten Pädagogik dienen solle statt denen der Kinder. Das Schreien der vielen missbrauchten Kinder und die Gleichgültigkeit von vielen Pädagogen gegenüber dem Leid ihrer Schutzbefohlenen hat selten einen so krassen und gleichzeitig glasklaren Niederschlag gefunden.

Es ehrt den Autor, dass er über dem Schicksal der vielen Schüler nicht versäumt, darauf zu verweisen, dass Missbrauch im allergrößten Umfang in Familien stattfindet – und auch da bagatellisiert und marginalisiert wird. Der aufgewühlte Leser erfährt am Ende des Buches zu seiner größten Verwunderung, dass nach all der Aufregung und all den Schlagzeilen zum Thema sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, der Autor etliche Ablehnungen deutscher Verlage erleben musste. Laut genug sind die Schreie der Missbrauchten wohl immer noch nicht. Die Untaten der Pädagogen sind strafrechtlich alle verjährt, die Leiden der Opfer indes vergehen nicht. Ein tapferes Buch eines tapferen Streiters gegen Missbrauch und für mehr Mitgefühl. Es könnte eine Zäsur setzen.

Jürgen Dehmers:

Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 318 Seiten, 19,80 Euro.

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